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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
wie die bloße Sammlung und Sichtung des Materials in einer bunten
Mannichfaltigkeit von Arbeiten allmälig, in continuirlicher Steigerung
der denkenden Bearbeitung, in Wissenschaft übergeht. Die Stellung
der Geschichtschreibung in diesem Zusammenhang, zwischen der
Sammlung der Thatsachen und der Ausscheidung des Gleichartigen
aus ihnen in einer einzelnen Theorie, ward in ihrer selbständigen
Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben. Sie war uns eine Kunst,
weil in ihr, wie in der Phantasie des Künstlers selber, das All-
gemeine in dem Besonderen angeschaut, noch nicht durch Abstraktion
von ihm gesondert und für sich dargestellt wird, was erst in der
Theorie geschieht. Das Besondere ist hier nur von der Idee im
Geiste des Geschichtschreibers gesättigt und gestaltet, und wo eine
Generalisation auftritt, beleuchtet sie nur blitzartig die Thatsachen
und entbindet auf einen Moment das abstrakte Denken. So dient
ja auch dem Dichter die Generalisation, indem sie aus dem Unge-
stüm, den Leiden und Affekten, welche er darstellt, einen Augenblick
die Seele seines Zuhörers in die freie Region der Gedanken
erhebt.

Aus diesem genialen Ueberblick des Geschichtschreibers, der
sich über das mannichfaltige Leben der Menschheit verbreitet,
löst sich nun aber eine erste deskriptive Zusammenordnung von
Gleichartigem aus. Sie schließt sich naturgemäß an die An-
thropologie des Einzelmenschen. Entwickelte diese den allge-
meinen menschlichen Typus, die allgemeinen Gesetze des Lebens
der psychophysischen Einheiten, die in diesen Gesetzen angelegten
Differenzen von Einzeltypen: so geht die Ethnologie oder
vergleichende Anthropologie von hier aus weiter; ihren Gegen-
stand bilden Gleichartigkeiten engeren Umfangs, durch welche
Gruppen innerhalb der Gesammtheit sich abgrenzen und als Ein-
zelglieder der Menschheit sich darstellen: die natürliche Gliederung
des Menschengeschlechts und die durch sie unter den Bedingungen
des Erdganzen entstehende Vertheilung des geistigen Lebens und
seiner Unterschiede auf der Oberfläche der Erde. Diese Völkerkunde
erforscht also, wie auf der Grundlage des Familienverbandes und
der Verwandtschaft, in durch den Grad der Abstammung gebildeten

Erſtes einleitendes Buch.
wie die bloße Sammlung und Sichtung des Materials in einer bunten
Mannichfaltigkeit von Arbeiten allmälig, in continuirlicher Steigerung
der denkenden Bearbeitung, in Wiſſenſchaft übergeht. Die Stellung
der Geſchichtſchreibung in dieſem Zuſammenhang, zwiſchen der
Sammlung der Thatſachen und der Ausſcheidung des Gleichartigen
aus ihnen in einer einzelnen Theorie, ward in ihrer ſelbſtändigen
Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben. Sie war uns eine Kunſt,
weil in ihr, wie in der Phantaſie des Künſtlers ſelber, das All-
gemeine in dem Beſonderen angeſchaut, noch nicht durch Abſtraktion
von ihm geſondert und für ſich dargeſtellt wird, was erſt in der
Theorie geſchieht. Das Beſondere iſt hier nur von der Idee im
Geiſte des Geſchichtſchreibers geſättigt und geſtaltet, und wo eine
Generaliſation auftritt, beleuchtet ſie nur blitzartig die Thatſachen
und entbindet auf einen Moment das abſtrakte Denken. So dient
ja auch dem Dichter die Generaliſation, indem ſie aus dem Unge-
ſtüm, den Leiden und Affekten, welche er darſtellt, einen Augenblick
die Seele ſeines Zuhörers in die freie Region der Gedanken
erhebt.

Aus dieſem genialen Ueberblick des Geſchichtſchreibers, der
ſich über das mannichfaltige Leben der Menſchheit verbreitet,
löſt ſich nun aber eine erſte deſkriptive Zuſammenordnung von
Gleichartigem aus. Sie ſchließt ſich naturgemäß an die An-
thropologie des Einzelmenſchen. Entwickelte dieſe den allge-
meinen menſchlichen Typus, die allgemeinen Geſetze des Lebens
der pſychophyſiſchen Einheiten, die in dieſen Geſetzen angelegten
Differenzen von Einzeltypen: ſo geht die Ethnologie oder
vergleichende Anthropologie von hier aus weiter; ihren Gegen-
ſtand bilden Gleichartigkeiten engeren Umfangs, durch welche
Gruppen innerhalb der Geſammtheit ſich abgrenzen und als Ein-
zelglieder der Menſchheit ſich darſtellen: die natürliche Gliederung
des Menſchengeſchlechts und die durch ſie unter den Bedingungen
des Erdganzen entſtehende Vertheilung des geiſtigen Lebens und
ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde. Dieſe Völkerkunde
erforſcht alſo, wie auf der Grundlage des Familienverbandes und
der Verwandtſchaft, in durch den Grad der Abſtammung gebildeten

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[50/0073] Erſtes einleitendes Buch. wie die bloße Sammlung und Sichtung des Materials in einer bunten Mannichfaltigkeit von Arbeiten allmälig, in continuirlicher Steigerung der denkenden Bearbeitung, in Wiſſenſchaft übergeht. Die Stellung der Geſchichtſchreibung in dieſem Zuſammenhang, zwiſchen der Sammlung der Thatſachen und der Ausſcheidung des Gleichartigen aus ihnen in einer einzelnen Theorie, ward in ihrer ſelbſtändigen Bedeutung nachdrücklich hervorgehoben. Sie war uns eine Kunſt, weil in ihr, wie in der Phantaſie des Künſtlers ſelber, das All- gemeine in dem Beſonderen angeſchaut, noch nicht durch Abſtraktion von ihm geſondert und für ſich dargeſtellt wird, was erſt in der Theorie geſchieht. Das Beſondere iſt hier nur von der Idee im Geiſte des Geſchichtſchreibers geſättigt und geſtaltet, und wo eine Generaliſation auftritt, beleuchtet ſie nur blitzartig die Thatſachen und entbindet auf einen Moment das abſtrakte Denken. So dient ja auch dem Dichter die Generaliſation, indem ſie aus dem Unge- ſtüm, den Leiden und Affekten, welche er darſtellt, einen Augenblick die Seele ſeines Zuhörers in die freie Region der Gedanken erhebt. Aus dieſem genialen Ueberblick des Geſchichtſchreibers, der ſich über das mannichfaltige Leben der Menſchheit verbreitet, löſt ſich nun aber eine erſte deſkriptive Zuſammenordnung von Gleichartigem aus. Sie ſchließt ſich naturgemäß an die An- thropologie des Einzelmenſchen. Entwickelte dieſe den allge- meinen menſchlichen Typus, die allgemeinen Geſetze des Lebens der pſychophyſiſchen Einheiten, die in dieſen Geſetzen angelegten Differenzen von Einzeltypen: ſo geht die Ethnologie oder vergleichende Anthropologie von hier aus weiter; ihren Gegen- ſtand bilden Gleichartigkeiten engeren Umfangs, durch welche Gruppen innerhalb der Geſammtheit ſich abgrenzen und als Ein- zelglieder der Menſchheit ſich darſtellen: die natürliche Gliederung des Menſchengeſchlechts und die durch ſie unter den Bedingungen des Erdganzen entſtehende Vertheilung des geiſtigen Lebens und ſeiner Unterſchiede auf der Oberfläche der Erde. Dieſe Völkerkunde erforſcht alſo, wie auf der Grundlage des Familienverbandes und der Verwandtſchaft, in durch den Grad der Abſtammung gebildeten

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/73>, abgerufen am 24.11.2024.