schwierige Problem, welches Psychologie aufzulösen hat, ist: analy- tische Erkenntniß der allgemeinen Eigenschaften dieses Menschen.
So aufgefaßt, ist Anthropologie und Psychologie die Grund- lage aller Erkenntniß des geschichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Gesellschaft. Sie ist nicht nur Vertiefung des Menschen in die Betrachtung seiner selbst. Ein Typus der Menschennatur steht immer zwischen dem Geschicht- schreiber und seinen Quellen, aus denen er Gestalten zu pul- sirendem Leben erwecken will; er steht nicht minder zwischen dem politischen Denker und der Wirklichkeit der Gesellschaft, welcher dieser Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wissenschaft will nur diesem subjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subject diese Individualeinheit ist, deren Prädikate alle Aussagen über sie sind, welche für das Verständniß der Gesellschaft und der Geschichte fruchtbar werden können. Diese Aufgabe der Psychologie und An- thropologie schließt aber in sich eine Erweiterung ihres Umfangs. Ueber die bisherige Erforschung der Gleichförmigkeiten des geistigen Lebens hinaus muß sie typische Unterschiede desselben erkennen, die Einbildungskraft des Künstlers, das Naturell des handelnden Menschen der Beschreibung und Analysis unterwerfen und das Studium der Formen des geistigen Lebens durch die Description der Realität seines Verlaufs, sowie seines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Systemen der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit zwischen der Psychologie einerseits, der Aesthetik, Ethik, den Wissenschaften der politischen Körper sowie der Geschichtswissenschaft andrerseits existirt: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generali- sationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darstellungen der Weltmänner von Charakteren und Schicksalen, unbestimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geschichtschreiber in seine Erzählung verwebt, eingenommen war.
Die Aufgaben einer solchen grundlegenden Wissenschaft kann die Psychologie nur lösen, indem sie sich in den Grenzen einer descriptiven Wissenschaft hält, welche Thatsachen und Gleichförmig-
Erſtes einleitendes Buch.
ſchwierige Problem, welches Pſychologie aufzulöſen hat, iſt: analy- tiſche Erkenntniß der allgemeinen Eigenſchaften dieſes Menſchen.
So aufgefaßt, iſt Anthropologie und Pſychologie die Grund- lage aller Erkenntniß des geſchichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Geſellſchaft. Sie iſt nicht nur Vertiefung des Menſchen in die Betrachtung ſeiner ſelbſt. Ein Typus der Menſchennatur ſteht immer zwiſchen dem Geſchicht- ſchreiber und ſeinen Quellen, aus denen er Geſtalten zu pul- ſirendem Leben erwecken will; er ſteht nicht minder zwiſchen dem politiſchen Denker und der Wirklichkeit der Geſellſchaft, welcher dieſer Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wiſſenſchaft will nur dieſem ſubjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subject dieſe Individualeinheit iſt, deren Prädikate alle Ausſagen über ſie ſind, welche für das Verſtändniß der Geſellſchaft und der Geſchichte fruchtbar werden können. Dieſe Aufgabe der Pſychologie und An- thropologie ſchließt aber in ſich eine Erweiterung ihres Umfangs. Ueber die bisherige Erforſchung der Gleichförmigkeiten des geiſtigen Lebens hinaus muß ſie typiſche Unterſchiede deſſelben erkennen, die Einbildungskraft des Künſtlers, das Naturell des handelnden Menſchen der Beſchreibung und Analyſis unterwerfen und das Studium der Formen des geiſtigen Lebens durch die Deſcription der Realität ſeines Verlaufs, ſowie ſeines Inhaltes ergänzen. Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen Syſtemen der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit zwiſchen der Pſychologie einerſeits, der Aeſthetik, Ethik, den Wiſſenſchaften der politiſchen Körper ſowie der Geſchichtswiſſenſchaft andrerſeits exiſtirt: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generali- ſationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter, Darſtellungen der Weltmänner von Charakteren und Schickſalen, unbeſtimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geſchichtſchreiber in ſeine Erzählung verwebt, eingenommen war.
Die Aufgaben einer ſolchen grundlegenden Wiſſenſchaft kann die Pſychologie nur löſen, indem ſie ſich in den Grenzen einer deſcriptiven Wiſſenſchaft hält, welche Thatſachen und Gleichförmig-
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Erſtes einleitendes Buch.
ſchwierige Problem, welches Pſychologie aufzulöſen hat, iſt: analy-
tiſche Erkenntniß der allgemeinen Eigenſchaften dieſes Menſchen.
So aufgefaßt, iſt Anthropologie und Pſychologie die Grund-
lage aller Erkenntniß des geſchichtlichen Lebens, wie aller Regeln
der Leitung und Fortbildung der Geſellſchaft. Sie iſt nicht nur
Vertiefung des Menſchen in die Betrachtung ſeiner ſelbſt. Ein
Typus der Menſchennatur ſteht immer zwiſchen dem Geſchicht-
ſchreiber und ſeinen Quellen, aus denen er Geſtalten zu pul-
ſirendem Leben erwecken will; er ſteht nicht minder zwiſchen dem
politiſchen Denker und der Wirklichkeit der Geſellſchaft, welcher
dieſer Regeln ihrer Fortbildung entwerfen will. Die Wiſſenſchaft
will nur dieſem ſubjektiven Typus Richtigkeit und Fruchtbarkeit
geben. Sie will allgemeine Sätze entwickeln, deren Subject dieſe
Individualeinheit iſt, deren Prädikate alle Ausſagen über ſie ſind,
welche für das Verſtändniß der Geſellſchaft und der Geſchichte
fruchtbar werden können. Dieſe Aufgabe der Pſychologie und An-
thropologie ſchließt aber in ſich eine Erweiterung ihres Umfangs.
Ueber die bisherige Erforſchung der Gleichförmigkeiten des geiſtigen
Lebens hinaus muß ſie typiſche Unterſchiede deſſelben erkennen,
die Einbildungskraft des Künſtlers, das Naturell des handelnden
Menſchen der Beſchreibung und Analyſis unterwerfen und das
Studium der Formen des geiſtigen Lebens durch die Deſcription
der Realität ſeines Verlaufs, ſowie ſeines Inhaltes ergänzen.
Hierdurch wird die Lücke ausgefüllt, welche in den bisherigen
Syſtemen der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit zwiſchen der
Pſychologie einerſeits, der Aeſthetik, Ethik, den Wiſſenſchaften der
politiſchen Körper ſowie der Geſchichtswiſſenſchaft andrerſeits
exiſtirt: ein Platz, der bisher nur von den ungenauen Generali-
ſationen der Lebenserfahrung, den Schöpfungen der Dichter,
Darſtellungen der Weltmänner von Charakteren und Schickſalen,
unbeſtimmten allgemeinen Wahrheiten, welche der Geſchichtſchreiber
in ſeine Erzählung verwebt, eingenommen war.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/63>, abgerufen am 23.11.2024.
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