Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Anthropologie und Psychologie. Einheit des gesellschaftlichen Körpers ausdrücken und so der an-deren Hälfte des Thatbestandes genugthun sollten. Eine solche Formel ist die Unterordnung des Verhältnisses des Einzelnen zum Staat unter das Verhältniß des Theils zum Ganzen, welches vor dem Theil ist, in der Staatslehre des Aristoteles; ist die Durchführung der Vorstellung vom Staat als einem wohlgeord- neten thierischen Organismus bei den Publicisten des Mittelalters, welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftstellern vertheidigt und näher ausgebildet wird; ist der Begriff einer Volksseele oder eines Volksgeistes. Nur durch den geschichtlichen Gegensatz haben diese Versuche, die Einheit der Individuen in der Gesellschaft einem Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der Volksseele fehlt die Einheit des Selbstbewußtseins und Wirkens, welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des Organismus substituirt für ein gegebenes Problem ein anderes, und zwar wird vielleicht, wie schon J. St. Mill bemerkt hat, die Auflösung des Problems der Gesellschaft früher und vollständiger gelingen als die des Problems des thierischen Organismus; schon jetzt aber kann die außerordentliche Verschiedenheit dieser beiden Arten von Systemen, in denen zu einer Gesammtleistung einander gegenseitig bedingende Funktionen zusammengreifen, gezeigt werden. Das Verhältniß der psychischen Einheiten zur Gesellschaft darf so- nach überhaupt keiner Construktion unterworfen werden. Kate- gorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Theil, sind für eine Construktion nicht benutzbar: selbst wo die Darstellung ihrer nicht entbehren kann, darf nie vergessen werden, daß sie in der Erfahrung des Individuums von sich selber ihren lebendigen Ur- sprung gehabt haben, daß sonach durch keine Rückanwendung mehr an dem Erlebniß, welches das Individuum sich selber in der Gesellschaft ist, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für sich zu sagen im Stande ist. Der Mensch als eine der Geschichte und Gesellschaft vorauf- Anthropologie und Pſychologie. Einheit des geſellſchaftlichen Körpers ausdrücken und ſo der an-deren Hälfte des Thatbeſtandes genugthun ſollten. Eine ſolche Formel iſt die Unterordnung des Verhältniſſes des Einzelnen zum Staat unter das Verhältniß des Theils zum Ganzen, welches vor dem Theil iſt, in der Staatslehre des Ariſtoteles; iſt die Durchführung der Vorſtellung vom Staat als einem wohlgeord- neten thieriſchen Organismus bei den Publiciſten des Mittelalters, welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftſtellern vertheidigt und näher ausgebildet wird; iſt der Begriff einer Volksſeele oder eines Volksgeiſtes. Nur durch den geſchichtlichen Gegenſatz haben dieſe Verſuche, die Einheit der Individuen in der Geſellſchaft einem Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der Volksſeele fehlt die Einheit des Selbſtbewußtſeins und Wirkens, welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des Organismus ſubſtituirt für ein gegebenes Problem ein anderes, und zwar wird vielleicht, wie ſchon J. St. Mill bemerkt hat, die Auflöſung des Problems der Geſellſchaft früher und vollſtändiger gelingen als die des Problems des thieriſchen Organismus; ſchon jetzt aber kann die außerordentliche Verſchiedenheit dieſer beiden Arten von Syſtemen, in denen zu einer Geſammtleiſtung einander gegenſeitig bedingende Funktionen zuſammengreifen, gezeigt werden. Das Verhältniß der pſychiſchen Einheiten zur Geſellſchaft darf ſo- nach überhaupt keiner Conſtruktion unterworfen werden. Kate- gorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Theil, ſind für eine Conſtruktion nicht benutzbar: ſelbſt wo die Darſtellung ihrer nicht entbehren kann, darf nie vergeſſen werden, daß ſie in der Erfahrung des Individuums von ſich ſelber ihren lebendigen Ur- ſprung gehabt haben, daß ſonach durch keine Rückanwendung mehr an dem Erlebniß, welches das Individuum ſich ſelber in der Geſellſchaft iſt, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für ſich zu ſagen im Stande iſt. Der Menſch als eine der Geſchichte und Geſellſchaft vorauf- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0062" n="39"/><fw place="top" type="header">Anthropologie und Pſychologie.</fw><lb/> Einheit des geſellſchaftlichen Körpers ausdrücken und ſo der an-<lb/> deren Hälfte des Thatbeſtandes genugthun ſollten. Eine ſolche<lb/> Formel iſt die Unterordnung des Verhältniſſes des Einzelnen zum<lb/> Staat unter das Verhältniß des Theils zum Ganzen, welches<lb/> vor dem Theil iſt, in der Staatslehre des Ariſtoteles; iſt die<lb/> Durchführung der Vorſtellung vom Staat als einem wohlgeord-<lb/> neten thieriſchen Organismus bei den Publiciſten des Mittelalters,<lb/> welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftſtellern vertheidigt<lb/> und näher ausgebildet wird; iſt der Begriff einer Volksſeele oder<lb/> eines Volksgeiſtes. 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Anthropologie und Pſychologie.
Einheit des geſellſchaftlichen Körpers ausdrücken und ſo der an-
deren Hälfte des Thatbeſtandes genugthun ſollten. Eine ſolche
Formel iſt die Unterordnung des Verhältniſſes des Einzelnen zum
Staat unter das Verhältniß des Theils zum Ganzen, welches
vor dem Theil iſt, in der Staatslehre des Ariſtoteles; iſt die
Durchführung der Vorſtellung vom Staat als einem wohlgeord-
neten thieriſchen Organismus bei den Publiciſten des Mittelalters,
welche von bedeutenden gegenwärtigen Schriftſtellern vertheidigt
und näher ausgebildet wird; iſt der Begriff einer Volksſeele oder
eines Volksgeiſtes. Nur durch den geſchichtlichen Gegenſatz haben
dieſe Verſuche, die Einheit der Individuen in der Geſellſchaft einem
Begriff unterzuordnen, eine vorübergehende Berechtigung. Der
Volksſeele fehlt die Einheit des Selbſtbewußtſeins und Wirkens,
welche wir im Begriff der Seele ausdrücken. Der Begriff des
Organismus ſubſtituirt für ein gegebenes Problem ein anderes,
und zwar wird vielleicht, wie ſchon J. St. Mill bemerkt hat, die
Auflöſung des Problems der Geſellſchaft früher und vollſtändiger
gelingen als die des Problems des thieriſchen Organismus; ſchon
jetzt aber kann die außerordentliche Verſchiedenheit dieſer beiden
Arten von Syſtemen, in denen zu einer Geſammtleiſtung einander
gegenſeitig bedingende Funktionen zuſammengreifen, gezeigt werden.
Das Verhältniß der pſychiſchen Einheiten zur Geſellſchaft darf ſo-
nach überhaupt keiner Conſtruktion unterworfen werden. Kate-
gorien, wie Einheit und Vielheit, Ganzes und Theil, ſind für
eine Conſtruktion nicht benutzbar: ſelbſt wo die Darſtellung ihrer
nicht entbehren kann, darf nie vergeſſen werden, daß ſie in der
Erfahrung des Individuums von ſich ſelber ihren lebendigen Ur-
ſprung gehabt haben, daß ſonach durch keine Rückanwendung mehr
an dem Erlebniß, welches das Individuum ſich ſelber in der
Geſellſchaft iſt, aufgeklärt werden kann, als die Erfahrung für ſich
zu ſagen im Stande iſt.
Der Menſch als eine der Geſchichte und Geſellſchaft vorauf-
gehende Thatſache iſt eine Fiction der genetiſchen Erklärung; der-
jenige Menſch, den geſunde analytiſche Wiſſenſchaft zum Object hat,
iſt das Individuum als ein Beſtandtheil der Geſellſchaft. Das
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