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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Metaphysik und Erkenntnißtheorie.
der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele
Länder, um die große Göttin Isis zu finden und ihr wunderbares
Antlitz zu schauen. Endlich steht er vor der Göttin der Natur,
er hebt den leichten glänzenden Schleier und -- die Geliebte sinkt
in seine Arme. Wenn der Seele zu gelingen scheint, das Subjekt
des Naturlaufs selber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge-
wahren, dann findet sie in diesem -- sich selbst. Dies ist in der
That das letzte Wort aller Metaphysik, und man kann sagen, nach-
dem dasselbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald
des Verstandes, bald der Leidenschaft, bald des tiefsten Gemüthes
ausgesprochen ist, scheint es, daß die Metaphysik auch in dieser
Rücksicht nichts Erhebliches mehr zu sagen habe.

Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieser
persönliche Gehalt des Seelenlebens ist nun in einer beständigen
geschichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeschränkt, und
kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er-
möglichen. Das ist die tiefste Einsicht, zu welcher unsere Phäno-
menologie der Metaphysik gelangte, im Gegensatz gegen die Kon-
struktionen der Epochen der Menschheit. Jedes metaphysische
System ist nur für die Lage repräsentativ, in welcher eine Seele
das Welträthsel erblickt hat. Es hat die Gewalt, diese Lage und
Zeit, den Zustand der Seele, die Art, wie die Menschen die Natur
und sich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das
gründlicher und allseitiger als dichterische Werke, in welchen das
Gemüthsleben nach seinem Gesetz mit Personen und Dingen
schaltet. Jedoch mit der geschichtlichen Lage des Seelenlebens ändert
sich der geistige Gehalt, welcher einem metaphysischen System Ein-
heit und Leben giebt. Wir können diese Aenderung weder nach
ihren Gränzen bestimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.

Der Grieche in der Zeit des Plato oder Aristoteles war an
eine bestimmte Vorstellungsweise der ersten Ursachen gebunden;
die christliche Weltansicht entwickelte sich, und es war nun gleich-
sam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art,
die erste Ursache der Welt vorzustellen erblickte. Für einen mittel-
alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und mensch-

Metaphyſik und Erkenntnißtheorie.
der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele
Länder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares
Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur,
er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt
in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt
des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge-
wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der
That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach-
dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald
des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes
ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer
Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe.

Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer
perſönliche Gehalt des Seelenlebens iſt nun in einer beſtändigen
geſchichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeſchränkt, und
kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er-
möglichen. Das iſt die tiefſte Einſicht, zu welcher unſere Phäno-
menologie der Metaphyſik gelangte, im Gegenſatz gegen die Kon-
ſtruktionen der Epochen der Menſchheit. Jedes metaphyſiſche
Syſtem iſt nur für die Lage repräſentativ, in welcher eine Seele
das Welträthſel erblickt hat. Es hat die Gewalt, dieſe Lage und
Zeit, den Zuſtand der Seele, die Art, wie die Menſchen die Natur
und ſich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das
gründlicher und allſeitiger als dichteriſche Werke, in welchen das
Gemüthsleben nach ſeinem Geſetz mit Perſonen und Dingen
ſchaltet. Jedoch mit der geſchichtlichen Lage des Seelenlebens ändert
ſich der geiſtige Gehalt, welcher einem metaphyſiſchen Syſtem Ein-
heit und Leben giebt. Wir können dieſe Aenderung weder nach
ihren Gränzen beſtimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.

Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an
eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe der erſten Urſachen gebunden;
die chriſtliche Weltanſicht entwickelte ſich, und es war nun gleich-
ſam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art,
die erſte Urſache der Welt vorzuſtellen erblickte. Für einen mittel-
alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und menſch-

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[517/0540] Metaphyſik und Erkenntnißtheorie. der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele Länder, um die große Göttin Iſis zu finden und ihr wunderbares Antlitz zu ſchauen. Endlich ſteht er vor der Göttin der Natur, er hebt den leichten glänzenden Schleier und — die Geliebte ſinkt in ſeine Arme. Wenn der Seele zu gelingen ſcheint, das Subjekt des Naturlaufs ſelber ledig der Hüllen und des Schleiers zu ge- wahren, dann findet ſie in dieſem — ſich ſelbſt. Dies iſt in der That das letzte Wort aller Metaphyſik, und man kann ſagen, nach- dem daſſelbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald des Verſtandes, bald der Leidenſchaft, bald des tiefſten Gemüthes ausgeſprochen iſt, ſcheint es, daß die Metaphyſik auch in dieſer Rückſicht nichts Erhebliches mehr zu ſagen habe. Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieſer perſönliche Gehalt des Seelenlebens iſt nun in einer beſtändigen geſchichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeſchränkt, und kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen er- möglichen. Das iſt die tiefſte Einſicht, zu welcher unſere Phäno- menologie der Metaphyſik gelangte, im Gegenſatz gegen die Kon- ſtruktionen der Epochen der Menſchheit. Jedes metaphyſiſche Syſtem iſt nur für die Lage repräſentativ, in welcher eine Seele das Welträthſel erblickt hat. Es hat die Gewalt, dieſe Lage und Zeit, den Zuſtand der Seele, die Art, wie die Menſchen die Natur und ſich erblickten, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es thut das gründlicher und allſeitiger als dichteriſche Werke, in welchen das Gemüthsleben nach ſeinem Geſetz mit Perſonen und Dingen ſchaltet. Jedoch mit der geſchichtlichen Lage des Seelenlebens ändert ſich der geiſtige Gehalt, welcher einem metaphyſiſchen Syſtem Ein- heit und Leben giebt. Wir können dieſe Aenderung weder nach ihren Gränzen beſtimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen. Der Grieche in der Zeit des Plato oder Ariſtoteles war an eine beſtimmte Vorſtellungsweiſe der erſten Urſachen gebunden; die chriſtliche Weltanſicht entwickelte ſich, und es war nun gleich- ſam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art, die erſte Urſache der Welt vorzuſtellen erblickte. Für einen mittel- alterlichen Kopf war die Erkenntniß der göttlichen und menſch-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/540>, abgerufen am 24.11.2024.