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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
Zusammenhang der Veränderungen nach Gesetzen, der heute die
Erfahrungen zu einem System verbindet, dem Alterthum nicht
bekannt. Daher hat eine solche Vorstellung von Bedingungen
immer nur eine relative Wahrheit, d. h. sie bezeichnet nicht eine
Realität, sondern entia rationis, Gedankendinge, welche die Herr-
schaft des Gedankens und des Eingreifens über einen gegebenen
eingeschränkten Zusammenhang von Phänomenen ermöglichen. Stellt
man sich eine plötzliche Erweiterung menschlicher Erfahrung vor,
dann würden die entia rationis, welche die Bedingungen dieser
Erfahrungen ausdrücken sollen, sich ihrer Erweiterung anpassen
müssen; wer kann sagen, wie weit dann die Veränderung greifen
würde? Und sucht man nun für diese letzten Begriffe einen ver-
einigenden Zusammenhang, so kann der Erkenntnißwerth der so ent-
stehenden Hypothese nicht ein größerer sein, als der ihrer Grund-
lage ist. Die metaphysische Welt, die hinter den Hilfsbegriffen
der Naturwissenschaft sich aufthut, ist also gleichsam in der zweiten
Potenz -- ein ens rationis. Wird das nicht durch die ganze Ge-
schichte der neueren Metaphysik bestätigt? Die Substanz Spinozas,
die Atome der Monisten, die Monaden von Leibniz, die Realen
von Herbart verwirren die Naturwissenschaften, indem sie aus dem
inneren psychischen Leben Elemente in den Naturlauf tragen, und
sie mindern das geistige Leben herab, indem sie einen Naturzu-
sammenhang in dem Willen suchen. Sie vermögen nicht, die
durch die Geschichte der Metaphysik hindurchgehende Dualität der
mechanisch-atomistischen und der von dem Ganzen ausgehenden
Weltansicht aufzuheben.

Die Metaphysik überwindet ebenso wenig die einge-
schränkte Subjektivität des Seelenlebens, welches jeder
metaphysischen Verknüpfung der letzten wissenschaftlichen Begriffe
zu Grunde liegt. Diese Behauptung enthält zwei Sätze in sich.
Eine einheitliche Vorstellung vom Subjekte des Weltlaufs kommt
nur durch die Vermittlung dessen, was das Seelenleben hinein-
giebt, zu Stande. Dieses Seelenleben ist aber in beständiger Ent-
wicklung, unberechenbar in seinen weiteren Entfaltungen, an jedem
Punkte geschichtlich relativ und eingeschränkt und daher unfähig,

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Zuſammenhang der Veränderungen nach Geſetzen, der heute die
Erfahrungen zu einem Syſtem verbindet, dem Alterthum nicht
bekannt. Daher hat eine ſolche Vorſtellung von Bedingungen
immer nur eine relative Wahrheit, d. h. ſie bezeichnet nicht eine
Realität, ſondern entia rationis, Gedankendinge, welche die Herr-
ſchaft des Gedankens und des Eingreifens über einen gegebenen
eingeſchränkten Zuſammenhang von Phänomenen ermöglichen. Stellt
man ſich eine plötzliche Erweiterung menſchlicher Erfahrung vor,
dann würden die entia rationis, welche die Bedingungen dieſer
Erfahrungen ausdrücken ſollen, ſich ihrer Erweiterung anpaſſen
müſſen; wer kann ſagen, wie weit dann die Veränderung greifen
würde? Und ſucht man nun für dieſe letzten Begriffe einen ver-
einigenden Zuſammenhang, ſo kann der Erkenntnißwerth der ſo ent-
ſtehenden Hypotheſe nicht ein größerer ſein, als der ihrer Grund-
lage iſt. Die metaphyſiſche Welt, die hinter den Hilfsbegriffen
der Naturwiſſenſchaft ſich aufthut, iſt alſo gleichſam in der zweiten
Potenz — ein ens rationis. Wird das nicht durch die ganze Ge-
ſchichte der neueren Metaphyſik beſtätigt? Die Subſtanz Spinozas,
die Atome der Moniſten, die Monaden von Leibniz, die Realen
von Herbart verwirren die Naturwiſſenſchaften, indem ſie aus dem
inneren pſychiſchen Leben Elemente in den Naturlauf tragen, und
ſie mindern das geiſtige Leben herab, indem ſie einen Naturzu-
ſammenhang in dem Willen ſuchen. Sie vermögen nicht, die
durch die Geſchichte der Metaphyſik hindurchgehende Dualität der
mechaniſch-atomiſtiſchen und der von dem Ganzen ausgehenden
Weltanſicht aufzuheben.

Die Metaphyſik überwindet ebenſo wenig die einge-
ſchränkte Subjektivität des Seelenlebens, welches jeder
metaphyſiſchen Verknüpfung der letzten wiſſenſchaftlichen Begriffe
zu Grunde liegt. Dieſe Behauptung enthält zwei Sätze in ſich.
Eine einheitliche Vorſtellung vom Subjekte des Weltlaufs kommt
nur durch die Vermittlung deſſen, was das Seelenleben hinein-
giebt, zu Stande. Dieſes Seelenleben iſt aber in beſtändiger Ent-
wicklung, unberechenbar in ſeinen weiteren Entfaltungen, an jedem
Punkte geſchichtlich relativ und eingeſchränkt und daher unfähig,

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[514/0537] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. Zuſammenhang der Veränderungen nach Geſetzen, der heute die Erfahrungen zu einem Syſtem verbindet, dem Alterthum nicht bekannt. Daher hat eine ſolche Vorſtellung von Bedingungen immer nur eine relative Wahrheit, d. h. ſie bezeichnet nicht eine Realität, ſondern entia rationis, Gedankendinge, welche die Herr- ſchaft des Gedankens und des Eingreifens über einen gegebenen eingeſchränkten Zuſammenhang von Phänomenen ermöglichen. Stellt man ſich eine plötzliche Erweiterung menſchlicher Erfahrung vor, dann würden die entia rationis, welche die Bedingungen dieſer Erfahrungen ausdrücken ſollen, ſich ihrer Erweiterung anpaſſen müſſen; wer kann ſagen, wie weit dann die Veränderung greifen würde? Und ſucht man nun für dieſe letzten Begriffe einen ver- einigenden Zuſammenhang, ſo kann der Erkenntnißwerth der ſo ent- ſtehenden Hypotheſe nicht ein größerer ſein, als der ihrer Grund- lage iſt. Die metaphyſiſche Welt, die hinter den Hilfsbegriffen der Naturwiſſenſchaft ſich aufthut, iſt alſo gleichſam in der zweiten Potenz — ein ens rationis. Wird das nicht durch die ganze Ge- ſchichte der neueren Metaphyſik beſtätigt? Die Subſtanz Spinozas, die Atome der Moniſten, die Monaden von Leibniz, die Realen von Herbart verwirren die Naturwiſſenſchaften, indem ſie aus dem inneren pſychiſchen Leben Elemente in den Naturlauf tragen, und ſie mindern das geiſtige Leben herab, indem ſie einen Naturzu- ſammenhang in dem Willen ſuchen. Sie vermögen nicht, die durch die Geſchichte der Metaphyſik hindurchgehende Dualität der mechaniſch-atomiſtiſchen und der von dem Ganzen ausgehenden Weltanſicht aufzuheben. Die Metaphyſik überwindet ebenſo wenig die einge- ſchränkte Subjektivität des Seelenlebens, welches jeder metaphyſiſchen Verknüpfung der letzten wiſſenſchaftlichen Begriffe zu Grunde liegt. Dieſe Behauptung enthält zwei Sätze in ſich. Eine einheitliche Vorſtellung vom Subjekte des Weltlaufs kommt nur durch die Vermittlung deſſen, was das Seelenleben hinein- giebt, zu Stande. Dieſes Seelenleben iſt aber in beſtändiger Ent- wicklung, unberechenbar in ſeinen weiteren Entfaltungen, an jedem Punkte geſchichtlich relativ und eingeſchränkt und daher unfähig,

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/537>, abgerufen am 22.11.2024.