Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. einen Nothbau errichtet, der nicht haltbarer ist, als die verwegenenSpeculationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und so ist es gekommen, daß die aus einem metaphysischen Prinzip ent- wickelten Geistesphilosophien Deutschlands, von Hegel, Schleiermacher und dem späteren Schelling, den Erwerb der positiven Geistes- wissenschaften mit tieferem Blick verwerthen, als die Arbeiten dieser positiven Philosophen es thun. Andere Versuche einer umfassenden Gliederung auf dem Die Geisteswissenschaften bilden nicht ein Ganzes von einer V. Ihr Material. Das Material dieser Wissenschaften bildet die geschichtlich-ge- 1) Den Ausgangspunkt bildeten die Discussionen über den Begriff
der Gesellschaft und die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaften, in denen eine Ergänzung der Staatswissenschaften gesucht wurde. Den Anstoß gaben L. Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, zweite Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitschr. für Staatsw. 1851. Fortgeführt in seiner Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Bd. I, 1855 S. 67 ff.: Die Staatswissenschaften und die Gesellschafts- wissenschaften. Wir heben zwei Versuche der Gliederung als besonders bemerkenswerth hervor: Stein, System der Staatswissenschaft, 1852, und Schäffle, Bau und Leben des socialen Körpers, 1875 ff. Erſtes einleitendes Buch. einen Nothbau errichtet, der nicht haltbarer iſt, als die verwegenenSpeculationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und ſo iſt es gekommen, daß die aus einem metaphyſiſchen Prinzip ent- wickelten Geiſtesphiloſophien Deutſchlands, von Hegel, Schleiermacher und dem ſpäteren Schelling, den Erwerb der poſitiven Geiſtes- wiſſenſchaften mit tieferem Blick verwerthen, als die Arbeiten dieſer poſitiven Philoſophen es thun. Andere Verſuche einer umfaſſenden Gliederung auf dem Die Geiſteswiſſenſchaften bilden nicht ein Ganzes von einer V. Ihr Material. Das Material dieſer Wiſſenſchaften bildet die geſchichtlich-ge- 1) Den Ausgangspunkt bildeten die Discuſſionen über den Begriff
der Geſellſchaft und die Aufgabe der Geſellſchaftswiſſenſchaften, in denen eine Ergänzung der Staatswiſſenſchaften geſucht wurde. Den Anſtoß gaben L. Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich, zweite Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitſchr. für Staatsw. 1851. Fortgeführt in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften Bd. I, 1855 S. 67 ff.: Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchafts- wiſſenſchaften. Wir heben zwei Verſuche der Gliederung als beſonders bemerkenswerth hervor: Stein, Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852, und Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers, 1875 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0053" n="30"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> einen Nothbau errichtet, der nicht haltbarer iſt, als die verwegenen<lb/> Speculationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und<lb/> ſo iſt es gekommen, daß die aus einem metaphyſiſchen Prinzip ent-<lb/> wickelten Geiſtesphiloſophien Deutſchlands, von Hegel, Schleiermacher<lb/> und dem ſpäteren Schelling, den Erwerb der poſitiven Geiſtes-<lb/> wiſſenſchaften mit tieferem Blick verwerthen, als die Arbeiten dieſer<lb/> poſitiven Philoſophen es thun.</p><lb/> <p>Andere Verſuche einer umfaſſenden Gliederung auf dem<lb/> Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ſind in Deutſchland von der Ver-<lb/> tiefung in die Aufgaben der Staatswiſſenſchaften ausgegangen,<lb/> wodurch freilich eine Einſeitigkeit des Geſichtspunktes bedingt iſt<note place="foot" n="1)">Den Ausgangspunkt bildeten die Discuſſionen über den Begriff<lb/> der Geſellſchaft und die Aufgabe der Geſellſchaftswiſſenſchaften, in denen<lb/> eine Ergänzung der Staatswiſſenſchaften geſucht wurde. Den Anſtoß gaben<lb/> L. Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich,<lb/> zweite Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitſchr. für Staatsw. 1851.<lb/> Fortgeführt in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften<lb/> Bd. <hi rendition="#aq">I</hi>, 1855 S. 67 ff.: Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchafts-<lb/> wiſſenſchaften. Wir heben zwei Verſuche der Gliederung als beſonders<lb/> bemerkenswerth hervor: Stein, Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852, und<lb/> Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers, 1875 ff.</note>.</p><lb/> <p>Die Geiſteswiſſenſchaften bilden nicht ein Ganzes von einer<lb/> logiſchen Conſtitution, welche der Gliederung des Naturerkennens<lb/> analog wäre; ihr Zuſammenhang hat ſich anders entwickelt und<lb/> muß wie er geſchichtlich gewachſen iſt nunmehr betrachtet werden.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head><hi rendition="#aq">V</hi>.<lb/><hi rendition="#b">Ihr Material.</hi></head><lb/> <p>Das Material dieſer Wiſſenſchaften bildet die geſchichtlich-ge-<lb/> ſellſchaftliche Wirklichkeit, ſo weit ſie als geſchichtliche Kunde im<lb/> Bewußtſein der Menſchheit ſich erhalten hat, als geſellſchaftliche,<lb/> über den gegenwärtigen Zuſtand ſich erſtreckende Kunde der<lb/> Wiſſenſchaft zugänglich gemacht worden iſt. So unermeßlich<lb/> dieſes Material iſt, ſo iſt doch ſeine Unvollkommenheit augen-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0053]
Erſtes einleitendes Buch.
einen Nothbau errichtet, der nicht haltbarer iſt, als die verwegenen
Speculationen eines Schelling und Oken über die Natur. Und
ſo iſt es gekommen, daß die aus einem metaphyſiſchen Prinzip ent-
wickelten Geiſtesphiloſophien Deutſchlands, von Hegel, Schleiermacher
und dem ſpäteren Schelling, den Erwerb der poſitiven Geiſtes-
wiſſenſchaften mit tieferem Blick verwerthen, als die Arbeiten dieſer
poſitiven Philoſophen es thun.
Andere Verſuche einer umfaſſenden Gliederung auf dem
Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ſind in Deutſchland von der Ver-
tiefung in die Aufgaben der Staatswiſſenſchaften ausgegangen,
wodurch freilich eine Einſeitigkeit des Geſichtspunktes bedingt iſt 1).
Die Geiſteswiſſenſchaften bilden nicht ein Ganzes von einer
logiſchen Conſtitution, welche der Gliederung des Naturerkennens
analog wäre; ihr Zuſammenhang hat ſich anders entwickelt und
muß wie er geſchichtlich gewachſen iſt nunmehr betrachtet werden.
V.
Ihr Material.
Das Material dieſer Wiſſenſchaften bildet die geſchichtlich-ge-
ſellſchaftliche Wirklichkeit, ſo weit ſie als geſchichtliche Kunde im
Bewußtſein der Menſchheit ſich erhalten hat, als geſellſchaftliche,
über den gegenwärtigen Zuſtand ſich erſtreckende Kunde der
Wiſſenſchaft zugänglich gemacht worden iſt. So unermeßlich
dieſes Material iſt, ſo iſt doch ſeine Unvollkommenheit augen-
1) Den Ausgangspunkt bildeten die Discuſſionen über den Begriff
der Geſellſchaft und die Aufgabe der Geſellſchaftswiſſenſchaften, in denen
eine Ergänzung der Staatswiſſenſchaften geſucht wurde. Den Anſtoß gaben
L. Stein, Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreich,
zweite Aufl. 1848, und R. Mohl, Tüb. Zeitſchr. für Staatsw. 1851.
Fortgeführt in ſeiner Geſchichte und Literatur der Staatswiſſenſchaften
Bd. I, 1855 S. 67 ff.: Die Staatswiſſenſchaften und die Geſellſchafts-
wiſſenſchaften. Wir heben zwei Verſuche der Gliederung als beſonders
bemerkenswerth hervor: Stein, Syſtem der Staatswiſſenſchaft, 1852, und
Schäffle, Bau und Leben des ſocialen Körpers, 1875 ff.
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