Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
Die Intensitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu
beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, sondern wir be-
zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsstärke zu einer
anderen. So ist die Herstellung eines Zusammenhangs nicht ein
Vorgang, welcher auf die Erfassung der Wirklichkeit folgt, sondern
Niemand faßt ein Augenblicksbild isolirt als Wirklichkeit, wir be-
sitzen es in einem Zusammenhang, vermittelst dessen wir, noch vor
aller wissenschaftlichen Beschäftigung, Wirklichkeit festzustellen suchen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung bringt Methode
in dieses Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich
versetzt sie den Mittelpunkt für das System von Bestimmungen, dem
die Eindrücke eingeordnet werden, in dies System selber. Sie ent-
wickelt einen objektiven Raum, innerhalb dessen die einzelne In-
telligenz sich an einer bestimmten Stelle findet, eine objektive Zeit,
in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein-
nimmt, sowie einen objektiven Kausalzusammenhang und feste
Elementeinheiten, zwischen denen er stattfindet. Die ganze Rich-
tung der Wissenschaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks-
bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen ist, vermittelst
der vom Denken verfolgten Relationen, in denen diese Bilder
im Bewußtsein sich befanden, objektive Realität und objektiven
Zusammenhang zu setzen. Und jedes Urtheil über Existenz und
Beschaffenheit eines äußeren Gegenstandes ist schließlich durch den
Denkzusammenhang bedingt, in welchem diese Existenz oder Be-
schaffenheit als nothwendig gesetzt ist. Das zufällige Zusammen
von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den
Ausgangspunkt für die Konstruktion einer allgemeingültigen Wirk-
lichkeit.

Sonach beherrscht der Satz, jedes Gegebene stehe in einem
denknothwendigen Zusammenhang, in welchem es bedingt sei und
selber bedinge, zunächst die Lösung der Aufgabe, allgemeingültige
und feste Urtheile über die Außenwelt festzustellen. Die Re-
lativität
, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt,
wird von der wissenschaftlichen Analysis in dem Bewußtsein
der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
Die Intenſitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu
beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, ſondern wir be-
zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsſtärke zu einer
anderen. So iſt die Herſtellung eines Zuſammenhangs nicht ein
Vorgang, welcher auf die Erfaſſung der Wirklichkeit folgt, ſondern
Niemand faßt ein Augenblicksbild iſolirt als Wirklichkeit, wir be-
ſitzen es in einem Zuſammenhang, vermittelſt deſſen wir, noch vor
aller wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung, Wirklichkeit feſtzuſtellen ſuchen.

Die wiſſenſchaftliche Beſchäftigung bringt Methode
in dieſes Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich
verſetzt ſie den Mittelpunkt für das Syſtem von Beſtimmungen, dem
die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Syſtem ſelber. Sie ent-
wickelt einen objektiven Raum, innerhalb deſſen die einzelne In-
telligenz ſich an einer beſtimmten Stelle findet, eine objektive Zeit,
in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein-
nimmt, ſowie einen objektiven Kauſalzuſammenhang und feſte
Elementeinheiten, zwiſchen denen er ſtattfindet. Die ganze Rich-
tung der Wiſſenſchaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks-
bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen iſt, vermittelſt
der vom Denken verfolgten Relationen, in denen dieſe Bilder
im Bewußtſein ſich befanden, objektive Realität und objektiven
Zuſammenhang zu ſetzen. Und jedes Urtheil über Exiſtenz und
Beſchaffenheit eines äußeren Gegenſtandes iſt ſchließlich durch den
Denkzuſammenhang bedingt, in welchem dieſe Exiſtenz oder Be-
ſchaffenheit als nothwendig geſetzt iſt. Das zufällige Zuſammen
von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den
Ausgangspunkt für die Konſtruktion einer allgemeingültigen Wirk-
lichkeit.

Sonach beherrſcht der Satz, jedes Gegebene ſtehe in einem
denknothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt ſei und
ſelber bedinge, zunächſt die Löſung der Aufgabe, allgemeingültige
und feſte Urtheile über die Außenwelt feſtzuſtellen. Die Re-
lativität
, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt,
wird von der wiſſenſchaftlichen Analyſis in dem Bewußtſein
der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0523" n="500"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Vierter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
Die Inten&#x017F;itäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu<lb/>
beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, &#x017F;ondern wir be-<lb/>
zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungs&#x017F;tärke zu einer<lb/>
anderen. So i&#x017F;t die Her&#x017F;tellung eines Zu&#x017F;ammenhangs nicht ein<lb/>
Vorgang, welcher auf die Erfa&#x017F;&#x017F;ung der Wirklichkeit folgt, &#x017F;ondern<lb/>
Niemand faßt ein Augenblicksbild i&#x017F;olirt als Wirklichkeit, wir be-<lb/>
&#x017F;itzen es in einem Zu&#x017F;ammenhang, vermittel&#x017F;t de&#x017F;&#x017F;en wir, noch vor<lb/>
aller wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Be&#x017F;chäftigung, Wirklichkeit fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen &#x017F;uchen.</p><lb/>
              <p>Die <hi rendition="#g">wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Be&#x017F;chäftigung</hi> bringt <hi rendition="#g">Methode</hi><lb/>
in <hi rendition="#g">die&#x017F;es Verfahren</hi>. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich<lb/>
ver&#x017F;etzt &#x017F;ie den Mittelpunkt für das Sy&#x017F;tem von Be&#x017F;timmungen, dem<lb/>
die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Sy&#x017F;tem &#x017F;elber. Sie ent-<lb/>
wickelt einen objektiven Raum, innerhalb de&#x017F;&#x017F;en die einzelne In-<lb/>
telligenz &#x017F;ich an einer be&#x017F;timmten Stelle findet, eine objektive Zeit,<lb/>
in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein-<lb/>
nimmt, &#x017F;owie einen objektiven Kau&#x017F;alzu&#x017F;ammenhang und fe&#x017F;te<lb/>
Elementeinheiten, zwi&#x017F;chen denen er &#x017F;tattfindet. Die ganze Rich-<lb/>
tung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks-<lb/>
bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen i&#x017F;t, vermittel&#x017F;t<lb/>
der vom Denken verfolgten Relationen, in denen die&#x017F;e Bilder<lb/>
im Bewußt&#x017F;ein &#x017F;ich befanden, objektive Realität und objektiven<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang zu &#x017F;etzen. Und jedes Urtheil über Exi&#x017F;tenz und<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit eines äußeren Gegen&#x017F;tandes i&#x017F;t &#x017F;chließlich durch den<lb/>
Denkzu&#x017F;ammenhang bedingt, in welchem die&#x017F;e Exi&#x017F;tenz oder Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit als nothwendig ge&#x017F;etzt i&#x017F;t. Das zufällige Zu&#x017F;ammen<lb/>
von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den<lb/>
Ausgangspunkt für die Kon&#x017F;truktion einer allgemeingültigen Wirk-<lb/>
lichkeit.</p><lb/>
              <p>Sonach beherr&#x017F;cht der Satz, jedes Gegebene &#x017F;tehe in einem<lb/>
denknothwendigen Zu&#x017F;ammenhang, in welchem es bedingt &#x017F;ei und<lb/>
&#x017F;elber bedinge, zunäch&#x017F;t die Lö&#x017F;ung der Aufgabe, allgemeingültige<lb/>
und fe&#x017F;te Urtheile über die Außenwelt fe&#x017F;tzu&#x017F;tellen. Die <hi rendition="#g">Re-<lb/>
lativität</hi>, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt,<lb/>
wird von der wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Analy&#x017F;is in dem <hi rendition="#g">Bewußt&#x017F;ein</hi><lb/>
der <hi rendition="#g">Relationen</hi>, welche das Gegebene in der Wahrnehmung<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[500/0523] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. Die Intenſitäten der Empfindung vermögen wir nicht direkt zu beurtheilen und in Zahlenwerthen auszudrücken, ſondern wir be- zeichnen nur die Beziehung einer Empfindungsſtärke zu einer anderen. So iſt die Herſtellung eines Zuſammenhangs nicht ein Vorgang, welcher auf die Erfaſſung der Wirklichkeit folgt, ſondern Niemand faßt ein Augenblicksbild iſolirt als Wirklichkeit, wir be- ſitzen es in einem Zuſammenhang, vermittelſt deſſen wir, noch vor aller wiſſenſchaftlichen Beſchäftigung, Wirklichkeit feſtzuſtellen ſuchen. Die wiſſenſchaftliche Beſchäftigung bringt Methode in dieſes Verfahren. Aus dem beweglichen veränderlichen Ich verſetzt ſie den Mittelpunkt für das Syſtem von Beſtimmungen, dem die Eindrücke eingeordnet werden, in dies Syſtem ſelber. Sie ent- wickelt einen objektiven Raum, innerhalb deſſen die einzelne In- telligenz ſich an einer beſtimmten Stelle findet, eine objektive Zeit, in deren Linie die Gegenwart des Individuums einen Punkt ein- nimmt, ſowie einen objektiven Kauſalzuſammenhang und feſte Elementeinheiten, zwiſchen denen er ſtattfindet. Die ganze Rich- tung der Wiſſenſchaft geht dahin, an die Stelle der Augenblicks- bilder, in welchen Mannichfaches aneinandergerathen iſt, vermittelſt der vom Denken verfolgten Relationen, in denen dieſe Bilder im Bewußtſein ſich befanden, objektive Realität und objektiven Zuſammenhang zu ſetzen. Und jedes Urtheil über Exiſtenz und Beſchaffenheit eines äußeren Gegenſtandes iſt ſchließlich durch den Denkzuſammenhang bedingt, in welchem dieſe Exiſtenz oder Be- ſchaffenheit als nothwendig geſetzt iſt. Das zufällige Zuſammen von Eindrücken in einem veränderlichen Subjekt bildet nur den Ausgangspunkt für die Konſtruktion einer allgemeingültigen Wirk- lichkeit. Sonach beherrſcht der Satz, jedes Gegebene ſtehe in einem denknothwendigen Zuſammenhang, in welchem es bedingt ſei und ſelber bedinge, zunächſt die Löſung der Aufgabe, allgemeingültige und feſte Urtheile über die Außenwelt feſtzuſtellen. Die Re- lativität, in welcher das Gegebene in der Außenwelt auftritt, wird von der wiſſenſchaftlichen Analyſis in dem Bewußtſein der Relationen, welche das Gegebene in der Wahrnehmung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/523
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/523>, abgerufen am 22.11.2024.