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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Hierdurch wird die metaphysische Psychologie beseitigt.
Vorstellung von einem bestimmten inneren Gesichtspunkte aus auf,
wie die Wahrnehmung von einem äußeren. Und die Gesetze der
Reproduktion von Vorstellungen bezeichnen zwar die Bedingungen,
unter welchen das psychische Leben wirkt, doch ist unmöglich, aus
diesen den Hintergrund unseres psychischen Lebens bildenden Pro-
zessen einen Schlußvorgang oder einen Willensakt abzuleiten. Die
psychische Mechanik opfert das, dessen wir in innerer Wahr-
nehmung inne werden, einem mit den Analogien der äußeren
Natur spielenden Räsonnement auf. Und so hat die von der
Naturwissenschaft geleitete erklärende Psychologie, in deren Bahnen
sich später auch Herbart bewegte, die klassificirende der älteren
metaphysischen Schulen zerstört und die wahre Aufgabe der Seelen-
lehre im Sinne der modernen Wissenschaft gezeigt; wo sie aber
selber von der Metaphysik der Naturwissenschaften beeinflußt wurde,
vermag sie nicht, ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten. Auch
auf diesem Gebiet vernichtet die Wissenschaft die Metaphysik, die
alte wie die neue.

Das nächste Problem der Geisteswissenschaften bilden die
Systeme der Kultur, welche in der Gesellschaft unter einander ver-
woben sind, sowie die äußere Organisation derselben, sonach Er-
klärung und Leitung der Gesellschaft
.

Die Wissenschaften, welche dieses Problem behandeln, begreifen
ganz verschiedene Klassen von Aussagen in sich: Urtheile, welche
die Wirklichkeit aussprechen, und Imperative sowie Ideale, welche
die Gesellschaft leiten wollen. Das Denken über die Gesellschaft
hat seine tiefste Aufgabe in der Verknüpfung der einen Klasse von
Aussagen mit der anderen. Die metaphysischen und theologischen
Prinzipien des Mittelalters hatten eine solche ermöglicht, vermittelst
des Bandes, durch welches die Gottheit und das ihr einwohnende
Gesetz mit dem Organismus des Staates, dem mystischen Körper
der Christenheit verbunden war. Der zeitige Zustand der Ge-
sellschaft, die Summe der Traditionen, die in ihr angesammelt
war, und das Gefühl von Autorität höherer Abkunft, das sie
durchdrang, standen in dieser Metaphysik mit dem Gedanken
Gottes in wohlgefügter Verbindung. Dieser Verband wurde nun

Dilthey, Einleitung. 31

Hierdurch wird die metaphyſiſche Pſychologie beſeitigt.
Vorſtellung von einem beſtimmten inneren Geſichtspunkte aus auf,
wie die Wahrnehmung von einem äußeren. Und die Geſetze der
Reproduktion von Vorſtellungen bezeichnen zwar die Bedingungen,
unter welchen das pſychiſche Leben wirkt, doch iſt unmöglich, aus
dieſen den Hintergrund unſeres pſychiſchen Lebens bildenden Pro-
zeſſen einen Schlußvorgang oder einen Willensakt abzuleiten. Die
pſychiſche Mechanik opfert das, deſſen wir in innerer Wahr-
nehmung inne werden, einem mit den Analogien der äußeren
Natur ſpielenden Räſonnement auf. Und ſo hat die von der
Naturwiſſenſchaft geleitete erklärende Pſychologie, in deren Bahnen
ſich ſpäter auch Herbart bewegte, die klaſſificirende der älteren
metaphyſiſchen Schulen zerſtört und die wahre Aufgabe der Seelen-
lehre im Sinne der modernen Wiſſenſchaft gezeigt; wo ſie aber
ſelber von der Metaphyſik der Naturwiſſenſchaften beeinflußt wurde,
vermag ſie nicht, ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten. Auch
auf dieſem Gebiet vernichtet die Wiſſenſchaft die Metaphyſik, die
alte wie die neue.

Das nächſte Problem der Geiſteswiſſenſchaften bilden die
Syſteme der Kultur, welche in der Geſellſchaft unter einander ver-
woben ſind, ſowie die äußere Organiſation derſelben, ſonach Er-
klärung und Leitung der Geſellſchaft
.

Die Wiſſenſchaften, welche dieſes Problem behandeln, begreifen
ganz verſchiedene Klaſſen von Ausſagen in ſich: Urtheile, welche
die Wirklichkeit ausſprechen, und Imperative ſowie Ideale, welche
die Geſellſchaft leiten wollen. Das Denken über die Geſellſchaft
hat ſeine tiefſte Aufgabe in der Verknüpfung der einen Klaſſe von
Ausſagen mit der anderen. Die metaphyſiſchen und theologiſchen
Prinzipien des Mittelalters hatten eine ſolche ermöglicht, vermittelſt
des Bandes, durch welches die Gottheit und das ihr einwohnende
Geſetz mit dem Organismus des Staates, dem myſtiſchen Körper
der Chriſtenheit verbunden war. Der zeitige Zuſtand der Ge-
ſellſchaft, die Summe der Traditionen, die in ihr angeſammelt
war, und das Gefühl von Autorität höherer Abkunft, das ſie
durchdrang, ſtanden in dieſer Metaphyſik mit dem Gedanken
Gottes in wohlgefügter Verbindung. Dieſer Verband wurde nun

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[481/0504] Hierdurch wird die metaphyſiſche Pſychologie beſeitigt. Vorſtellung von einem beſtimmten inneren Geſichtspunkte aus auf, wie die Wahrnehmung von einem äußeren. Und die Geſetze der Reproduktion von Vorſtellungen bezeichnen zwar die Bedingungen, unter welchen das pſychiſche Leben wirkt, doch iſt unmöglich, aus dieſen den Hintergrund unſeres pſychiſchen Lebens bildenden Pro- zeſſen einen Schlußvorgang oder einen Willensakt abzuleiten. Die pſychiſche Mechanik opfert das, deſſen wir in innerer Wahr- nehmung inne werden, einem mit den Analogien der äußeren Natur ſpielenden Räſonnement auf. Und ſo hat die von der Naturwiſſenſchaft geleitete erklärende Pſychologie, in deren Bahnen ſich ſpäter auch Herbart bewegte, die klaſſificirende der älteren metaphyſiſchen Schulen zerſtört und die wahre Aufgabe der Seelen- lehre im Sinne der modernen Wiſſenſchaft gezeigt; wo ſie aber ſelber von der Metaphyſik der Naturwiſſenſchaften beeinflußt wurde, vermag ſie nicht, ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten. Auch auf dieſem Gebiet vernichtet die Wiſſenſchaft die Metaphyſik, die alte wie die neue. Das nächſte Problem der Geiſteswiſſenſchaften bilden die Syſteme der Kultur, welche in der Geſellſchaft unter einander ver- woben ſind, ſowie die äußere Organiſation derſelben, ſonach Er- klärung und Leitung der Geſellſchaft. Die Wiſſenſchaften, welche dieſes Problem behandeln, begreifen ganz verſchiedene Klaſſen von Ausſagen in ſich: Urtheile, welche die Wirklichkeit ausſprechen, und Imperative ſowie Ideale, welche die Geſellſchaft leiten wollen. Das Denken über die Geſellſchaft hat ſeine tiefſte Aufgabe in der Verknüpfung der einen Klaſſe von Ausſagen mit der anderen. Die metaphyſiſchen und theologiſchen Prinzipien des Mittelalters hatten eine ſolche ermöglicht, vermittelſt des Bandes, durch welches die Gottheit und das ihr einwohnende Geſetz mit dem Organismus des Staates, dem myſtiſchen Körper der Chriſtenheit verbunden war. Der zeitige Zuſtand der Ge- ſellſchaft, die Summe der Traditionen, die in ihr angeſammelt war, und das Gefühl von Autorität höherer Abkunft, das ſie durchdrang, ſtanden in dieſer Metaphyſik mit dem Gedanken Gottes in wohlgefügter Verbindung. Dieſer Verband wurde nun Dilthey, Einleitung. 31

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/504>, abgerufen am 22.11.2024.