Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Vierter Abschnitt. der Erscheinungen in einer Fassung von relativem Werthe sammelnkonnten. Die positive Wissenschaft bringt nach der Ansicht der Meta- physiker nur die einzelnen Worte und die Regeln der Verknüpfung derselben hervor, welche dann erst unter ihren Händen zum Gedicht werden. Aber ein Gedicht hat keine allgemeingültige Wahrheit. Man hat ungefähr in derselben Zeit neben einander Schelling seine Offen- barungsphilosophie, Hegel seine Weltvernunft, Schopenhauer seinen Weltwillen, die Materialisten ihre Anarchie der Atome beweisen hören; alle mit gleich guten oder schlechten Gründen. Handelt es sich etwa darum, unter diesen Systemen das wahre auszusuchen? Das wäre ein sonderbarer Aberglaube; so vernehmlich als möglich lehrt diese metaphysische Anarchie die Relativität aller metaphy- sischen Systeme. Ein jedes von ihnen repräsentirt so viel, als es in sich faßt. Es hat so viel Wahrheit als eingegrenzte That- sachen und Wahrheiten seinen grenzenlosen Verallgemeinerungen zu Grunde liegen. Es ist ein Organ, sehen zu machen, die Individuen durch den Gedanken zu vertiefen und zu dem unsichtbaren Zu- sammenhang in Beziehung zu erhalten. Dieses und vieles Ver- wandte bildet die neue Funktion der Metaphysik in der modernen Gesellschaft. Daher sind diese Systeme der Aus- druck bedeutender und in ihren Gedanken weit um sich greifender Personen. Die wahren Metaphysiker haben gelebt, was sie schrieben. Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz sind von neueren Geschichts- schreibern der Philosophie immer mehr als centrale Individuali- täten aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der wissenschaftlichen Gedanken sich auf relative Weise abspiegelt. Eben dieser ihr repräsentativer Charakter beweist die Relativität des Wahrheitsgehaltes in ihren Systemen. Die Wahrheit ist nicht etwas Repräsentatives. Aber selbst diese Funktion der metaphysischen Systeme in der Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. der Erſcheinungen in einer Faſſung von relativem Werthe ſammelnkonnten. Die poſitive Wiſſenſchaft bringt nach der Anſicht der Meta- phyſiker nur die einzelnen Worte und die Regeln der Verknüpfung derſelben hervor, welche dann erſt unter ihren Händen zum Gedicht werden. Aber ein Gedicht hat keine allgemeingültige Wahrheit. Man hat ungefähr in derſelben Zeit neben einander Schelling ſeine Offen- barungsphiloſophie, Hegel ſeine Weltvernunft, Schopenhauer ſeinen Weltwillen, die Materialiſten ihre Anarchie der Atome beweiſen hören; alle mit gleich guten oder ſchlechten Gründen. Handelt es ſich etwa darum, unter dieſen Syſtemen das wahre auszuſuchen? Das wäre ein ſonderbarer Aberglaube; ſo vernehmlich als möglich lehrt dieſe metaphyſiſche Anarchie die Relativität aller metaphy- ſiſchen Syſteme. Ein jedes von ihnen repräſentirt ſo viel, als es in ſich faßt. Es hat ſo viel Wahrheit als eingegrenzte That- ſachen und Wahrheiten ſeinen grenzenloſen Verallgemeinerungen zu Grunde liegen. Es iſt ein Organ, ſehen zu machen, die Individuen durch den Gedanken zu vertiefen und zu dem unſichtbaren Zu- ſammenhang in Beziehung zu erhalten. Dieſes und vieles Ver- wandte bildet die neue Funktion der Metaphyſik in der modernen Geſellſchaft. Daher ſind dieſe Syſteme der Aus- druck bedeutender und in ihren Gedanken weit um ſich greifender Perſonen. Die wahren Metaphyſiker haben gelebt, was ſie ſchrieben. Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz ſind von neueren Geſchichts- ſchreibern der Philoſophie immer mehr als centrale Individuali- täten aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der wiſſenſchaftlichen Gedanken ſich auf relative Weiſe abſpiegelt. Eben dieſer ihr repräſentativer Charakter beweiſt die Relativität des Wahrheitsgehaltes in ihren Syſtemen. 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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
der Erſcheinungen in einer Faſſung von relativem Werthe ſammeln
konnten. Die poſitive Wiſſenſchaft bringt nach der Anſicht der Meta-
phyſiker nur die einzelnen Worte und die Regeln der Verknüpfung
derſelben hervor, welche dann erſt unter ihren Händen zum Gedicht
werden. Aber ein Gedicht hat keine allgemeingültige Wahrheit. Man
hat ungefähr in derſelben Zeit neben einander Schelling ſeine Offen-
barungsphiloſophie, Hegel ſeine Weltvernunft, Schopenhauer ſeinen
Weltwillen, die Materialiſten ihre Anarchie der Atome beweiſen
hören; alle mit gleich guten oder ſchlechten Gründen. Handelt es
ſich etwa darum, unter dieſen Syſtemen das wahre auszuſuchen?
Das wäre ein ſonderbarer Aberglaube; ſo vernehmlich als möglich
lehrt dieſe metaphyſiſche Anarchie die Relativität aller metaphy-
ſiſchen Syſteme. Ein jedes von ihnen repräſentirt ſo viel, als
es in ſich faßt. Es hat ſo viel Wahrheit als eingegrenzte That-
ſachen und Wahrheiten ſeinen grenzenloſen Verallgemeinerungen zu
Grunde liegen. Es iſt ein Organ, ſehen zu machen, die Individuen
durch den Gedanken zu vertiefen und zu dem unſichtbaren Zu-
ſammenhang in Beziehung zu erhalten. Dieſes und vieles Ver-
wandte bildet die neue Funktion der Metaphyſik in der
modernen Geſellſchaft. Daher ſind dieſe Syſteme der Aus-
druck bedeutender und in ihren Gedanken weit um ſich greifender
Perſonen. Die wahren Metaphyſiker haben gelebt, was ſie ſchrieben.
Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz ſind von neueren Geſchichts-
ſchreibern der Philoſophie immer mehr als centrale Individuali-
täten aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der
wiſſenſchaftlichen Gedanken ſich auf relative Weiſe abſpiegelt. Eben
dieſer ihr repräſentativer Charakter beweiſt die Relativität des
Wahrheitsgehaltes in ihren Syſtemen. Die Wahrheit iſt nicht etwas
Repräſentatives.
Aber ſelbſt dieſe Funktion der metaphyſiſchen Syſteme in der
modernen Geſellſchaft kann nur vorübergehend ſein. Denn dieſe
ſchimmernden Zauberſchlöſſer der wiſſenſchaftlichen Einbildungskraft
können, nachdem die Relativität ihres Wahrheitsgehaltes erkannt
iſt, das ernüchterte Auge nicht mehr täuſchen. Und gleichviel wie
lange noch ein Einfluß auf die Kreiſe der Gebildeten von meta-
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