metaphysischen Spinngewebe, welche vom Diesseits zum Jenseits gezogen worden waren, satt, und doch dauerte das aufrichtige Ringen nach der Wahrheit hinter den Erscheinungen fort. So wandte sich nun der Romane den Erfahrungen der äußeren Natur und des Weltlebens, der nordische Mensch zunächst der lebendigen religiösen Erfahrung zu.
Und jetzt erschien auch an dieser Wende der intellektuellen Entwicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klasse von Personen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schrift- steller oder auch dem Professor an einer der von Städten oder aufgeklärten Fürsten gegründeten oder neugestalteten Universitäten Platz. In den Städten, in welchen diese Männer auftraten, be- stand nicht der Unterschied zwischen einer großen thätigen aber ununterrichteten Sklavenmasse und einer kleinen Zahl freier Bürger, welche jede Art von körperlicher Arbeit als ihrer unwürdig an- sahen. Während dies Verhältniß in den griechischen Städten den Fortschritt der Erfindungen in hohem Grade gehindert hatte, ent- standen im Zusammenhang mit der Industrie in den modernen Städten Erfindungen von großer Tragweite. Der weite Schau- platz unseres Erdtheils und die ungeheuren Mittel dieser modernen Welt brachten einen ununterbrochenen Zusammenhang vieler Ar- beiter hervor. Diesen aber stand die Natur nicht als ein in sich göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menschen griff durch sie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfassen. In dieser Bewegung entstand der Charakter der modernen Wissen- schaft: Studium der Wirklichkeit, wie sie in der Erfahrung ge- geben ist, vermittelst der Aufsuchung des kausalen Zusammenhangs, sonach durch Zerlegung der zusammengesetzten Wirklichkeit in ihre Faktoren, besonders durch das Experiment. Die Aufgabe, das Konstante in den Veränderungen der Natur festzustellen, wurde durch die Aufsuchung von Naturgesetzen gelöst. Das Naturgesetz verzichtet darauf, das Wesen der Dinge auszudrücken, und indem so Grenzen der positiven Wissenschaft hervortraten, wurde das Studium der Wirklichkeit ergänzt durch eine Erkenntniß- theorie, welche das Feld der Wissenschaften abmaß.
Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metaphyſiſchen Spinngewebe, welche vom Diesſeits zum Jenſeits gezogen worden waren, ſatt, und doch dauerte das aufrichtige Ringen nach der Wahrheit hinter den Erſcheinungen fort. So wandte ſich nun der Romane den Erfahrungen der äußeren Natur und des Weltlebens, der nordiſche Menſch zunächſt der lebendigen religiöſen Erfahrung zu.
Und jetzt erſchien auch an dieſer Wende der intellektuellen Entwicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klaſſe von Perſonen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schrift- ſteller oder auch dem Profeſſor an einer der von Städten oder aufgeklärten Fürſten gegründeten oder neugeſtalteten Univerſitäten Platz. In den Städten, in welchen dieſe Männer auftraten, be- ſtand nicht der Unterſchied zwiſchen einer großen thätigen aber ununterrichteten Sklavenmaſſe und einer kleinen Zahl freier Bürger, welche jede Art von körperlicher Arbeit als ihrer unwürdig an- ſahen. Während dies Verhältniß in den griechiſchen Städten den Fortſchritt der Erfindungen in hohem Grade gehindert hatte, ent- ſtanden im Zuſammenhang mit der Induſtrie in den modernen Städten Erfindungen von großer Tragweite. Der weite Schau- platz unſeres Erdtheils und die ungeheuren Mittel dieſer modernen Welt brachten einen ununterbrochenen Zuſammenhang vieler Ar- beiter hervor. Dieſen aber ſtand die Natur nicht als ein in ſich göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menſchen griff durch ſie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfaſſen. In dieſer Bewegung entſtand der Charakter der modernen Wiſſen- ſchaft: Studium der Wirklichkeit, wie ſie in der Erfahrung ge- geben iſt, vermittelſt der Aufſuchung des kauſalen Zuſammenhangs, ſonach durch Zerlegung der zuſammengeſetzten Wirklichkeit in ihre Faktoren, beſonders durch das Experiment. Die Aufgabe, das Konſtante in den Veränderungen der Natur feſtzuſtellen, wurde durch die Aufſuchung von Naturgeſetzen gelöſt. Das Naturgeſetz verzichtet darauf, das Weſen der Dinge auszudrücken, und indem ſo Grenzen der poſitiven Wiſſenſchaft hervortraten, wurde das Studium der Wirklichkeit ergänzt durch eine Erkenntniß- theorie, welche das Feld der Wiſſenſchaften abmaß.
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Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metaphyſiſchen Spinngewebe, welche vom Diesſeits zum Jenſeits
gezogen worden waren, ſatt, und doch dauerte das aufrichtige
Ringen nach der Wahrheit hinter den Erſcheinungen fort. So
wandte ſich nun der Romane den Erfahrungen der äußeren Natur
und des Weltlebens, der nordiſche Menſch zunächſt der lebendigen
religiöſen Erfahrung zu.
Und jetzt erſchien auch an dieſer Wende der intellektuellen
Entwicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klaſſe
von Perſonen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schrift-
ſteller oder auch dem Profeſſor an einer der von Städten oder
aufgeklärten Fürſten gegründeten oder neugeſtalteten Univerſitäten
Platz. In den Städten, in welchen dieſe Männer auftraten, be-
ſtand nicht der Unterſchied zwiſchen einer großen thätigen aber
ununterrichteten Sklavenmaſſe und einer kleinen Zahl freier Bürger,
welche jede Art von körperlicher Arbeit als ihrer unwürdig an-
ſahen. Während dies Verhältniß in den griechiſchen Städten den
Fortſchritt der Erfindungen in hohem Grade gehindert hatte, ent-
ſtanden im Zuſammenhang mit der Induſtrie in den modernen
Städten Erfindungen von großer Tragweite. Der weite Schau-
platz unſeres Erdtheils und die ungeheuren Mittel dieſer modernen
Welt brachten einen ununterbrochenen Zuſammenhang vieler Ar-
beiter hervor. Dieſen aber ſtand die Natur nicht als ein in ſich
göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menſchen griff durch
ſie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfaſſen. In
dieſer Bewegung entſtand der Charakter der modernen Wiſſen-
ſchaft: Studium der Wirklichkeit, wie ſie in der Erfahrung ge-
geben iſt, vermittelſt der Aufſuchung des kauſalen Zuſammenhangs,
ſonach durch Zerlegung der zuſammengeſetzten Wirklichkeit in ihre
Faktoren, beſonders durch das Experiment. Die Aufgabe, das
Konſtante in den Veränderungen der Natur feſtzuſtellen, wurde
durch die Aufſuchung von Naturgeſetzen gelöſt. Das Naturgeſetz
verzichtet darauf, das Weſen der Dinge auszudrücken, und indem
ſo Grenzen der poſitiven Wiſſenſchaft hervortraten, wurde das
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/477>, abgerufen am 29.11.2024.
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