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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich
nahm mit dem Wachsthum des individuellen Selbstgefühls und
der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannig-
faltigkeit
der Weltansicht zu. In metaphysischem Denken
wie in poetischem Sinnen wurden alle Möglichkeiten der Weltbe-
trachtung durchgebildet. -- Traf das volle Licht dieser neuen Zeit
zuerst Italien, so war doch schon das erste Aufdämmern derselben
im Norden ein mächtigeres Phänomen. In Occam finden wir
eine tiefere Grundlage des modernen Bewußtseins, als in seinem
jüngeren Zeitgenossen Petrarca: die Selbstgewißheit der inneren
Erfahrung. Gegenüber der Autorität, der Wortbeweisführung,
den die Erfahrung überschreitenden Syllogismen wird hier im
Willen eine mächtige Realität, aufrichtige und wahrhaftige Wesen-
heit wahrgenommen.

So erweisen sich Veränderungen in dem ganzen status ho-
minis
auch innerhalb der relativ selbständigen intellektuellen Ent-
wicklung als einwirkend, ja bestimmend. Es ist eine äußerliche
Betrachtung, wenn man die Umänderung des wissenschaftlichen
Geistes seit dem vierzehnten Jahrhundert auf den Humanismus
zurückführt. Durch das ganze Mittelalter geht das Anwachsen
der Kenntniß von Büchern und Hilfsmitteln des Alterthums 1).
Trat nun inneres Wiederverständniß des Geistes der alten Schrift-
steller zuerst im vierzehnten Jahrhundert in Italien, später bei den
anderen Völkern hervor, so war dies die Folge tiefer liegender
Ursachen. Es bildeten sich bei den neueren Völkern, insbesondere
in den Städten, soziale und politische Zustände, welche denen
in den alten Stadtstaaten analog waren; dies hatte ein persön-
liches Lebensgefühl, Stimmungen, Interessen, Vorstellungen zur
Folge, welche durch ihre Verwandtschaft mit denen der antiken
Völker ein Wiederverständniß der alten Welt möglich gemacht
haben. Denn der Mensch, welcher in sich das Vergangene erneuern

1) Prantl hat in seiner Geschichte der Logik im Abendlande 1855 ff.
für einen einzelnen Zweig der wissenschaftlichen Literatur den Beweis dieses
wichtigen Satzes erschöpfend geführt.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich
nahm mit dem Wachsthum des individuellen Selbſtgefühls und
der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannig-
faltigkeit
der Weltanſicht zu. In metaphyſiſchem Denken
wie in poetiſchem Sinnen wurden alle Möglichkeiten der Weltbe-
trachtung durchgebildet. — Traf das volle Licht dieſer neuen Zeit
zuerſt Italien, ſo war doch ſchon das erſte Aufdämmern derſelben
im Norden ein mächtigeres Phänomen. In Occam finden wir
eine tiefere Grundlage des modernen Bewußtſeins, als in ſeinem
jüngeren Zeitgenoſſen Petrarca: die Selbſtgewißheit der inneren
Erfahrung. Gegenüber der Autorität, der Wortbeweisführung,
den die Erfahrung überſchreitenden Syllogismen wird hier im
Willen eine mächtige Realität, aufrichtige und wahrhaftige Weſen-
heit wahrgenommen.

So erweiſen ſich Veränderungen in dem ganzen status ho-
minis
auch innerhalb der relativ ſelbſtändigen intellektuellen Ent-
wicklung als einwirkend, ja beſtimmend. Es iſt eine äußerliche
Betrachtung, wenn man die Umänderung des wiſſenſchaftlichen
Geiſtes ſeit dem vierzehnten Jahrhundert auf den Humanismus
zurückführt. Durch das ganze Mittelalter geht das Anwachſen
der Kenntniß von Büchern und Hilfsmitteln des Alterthums 1).
Trat nun inneres Wiederverſtändniß des Geiſtes der alten Schrift-
ſteller zuerſt im vierzehnten Jahrhundert in Italien, ſpäter bei den
anderen Völkern hervor, ſo war dies die Folge tiefer liegender
Urſachen. Es bildeten ſich bei den neueren Völkern, insbeſondere
in den Städten, ſoziale und politiſche Zuſtände, welche denen
in den alten Stadtſtaaten analog waren; dies hatte ein perſön-
liches Lebensgefühl, Stimmungen, Intereſſen, Vorſtellungen zur
Folge, welche durch ihre Verwandtſchaft mit denen der antiken
Völker ein Wiederverſtändniß der alten Welt möglich gemacht
haben. Denn der Menſch, welcher in ſich das Vergangene erneuern

1) Prantl hat in ſeiner Geſchichte der Logik im Abendlande 1855 ff.
für einen einzelnen Zweig der wiſſenſchaftlichen Literatur den Beweis dieſes
wichtigen Satzes erſchöpfend geführt.
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[452/0475] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich nahm mit dem Wachsthum des individuellen Selbſtgefühls und der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannig- faltigkeit der Weltanſicht zu. In metaphyſiſchem Denken wie in poetiſchem Sinnen wurden alle Möglichkeiten der Weltbe- trachtung durchgebildet. — Traf das volle Licht dieſer neuen Zeit zuerſt Italien, ſo war doch ſchon das erſte Aufdämmern derſelben im Norden ein mächtigeres Phänomen. In Occam finden wir eine tiefere Grundlage des modernen Bewußtſeins, als in ſeinem jüngeren Zeitgenoſſen Petrarca: die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrung. Gegenüber der Autorität, der Wortbeweisführung, den die Erfahrung überſchreitenden Syllogismen wird hier im Willen eine mächtige Realität, aufrichtige und wahrhaftige Weſen- heit wahrgenommen. So erweiſen ſich Veränderungen in dem ganzen status ho- minis auch innerhalb der relativ ſelbſtändigen intellektuellen Ent- wicklung als einwirkend, ja beſtimmend. Es iſt eine äußerliche Betrachtung, wenn man die Umänderung des wiſſenſchaftlichen Geiſtes ſeit dem vierzehnten Jahrhundert auf den Humanismus zurückführt. Durch das ganze Mittelalter geht das Anwachſen der Kenntniß von Büchern und Hilfsmitteln des Alterthums 1). Trat nun inneres Wiederverſtändniß des Geiſtes der alten Schrift- ſteller zuerſt im vierzehnten Jahrhundert in Italien, ſpäter bei den anderen Völkern hervor, ſo war dies die Folge tiefer liegender Urſachen. Es bildeten ſich bei den neueren Völkern, insbeſondere in den Städten, ſoziale und politiſche Zuſtände, welche denen in den alten Stadtſtaaten analog waren; dies hatte ein perſön- liches Lebensgefühl, Stimmungen, Intereſſen, Vorſtellungen zur Folge, welche durch ihre Verwandtſchaft mit denen der antiken Völker ein Wiederverſtändniß der alten Welt möglich gemacht haben. Denn der Menſch, welcher in ſich das Vergangene erneuern 1) Prantl hat in ſeiner Geſchichte der Logik im Abendlande 1855 ff. für einen einzelnen Zweig der wiſſenſchaftlichen Literatur den Beweis dieſes wichtigen Satzes erſchöpfend geführt.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/475>, abgerufen am 28.11.2024.