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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Wie in ihm das moderne wissenschaftliche Bewußtsein entsteht.
tionen in der Gebundenheit der Seelenkräfte naturgemäß begonnen
hatten. Sie ist aber zugleich eine Wiederherstellung des von den
Griechen Erarbeiteten und im Christenthum Gewonnenen, und daher
sind Humanismus und Reformation hervorragende Bestandtheile des
Vorganges, in welchem unser modernes Bewußtsein entstand. --
Zu dieser Differenzirung trat als eine andere Seite der geschichtlichen
Bewegung, welche dem modernen wissenschaftlichen Bewußtsein
das Leben gab, die Veränderung in der äußeren Organisation der
Gesellschaft, welche alle individuellen Kräfte löste und das In-
dividuum verselbständigte. Innerhalb der Städte vollzog sich
zuerst diese soziale und politische Umgestaltung. In den Zusammen-
hang unserer Darlegung fügt sich harmonisch das klassische Ge-
mälde ein, welches Jakob Burckhardt von dem ersten Auftreten des
modernen Menschen in dem Italien der Renaissance entworfen
hat. "Im Mittelalter, sagt er, lagen die beiden Seiten des Be-
wußtseins -- nach der Welt hin und nach dem Inneren des
Menschen selbst -- wie unter einem gemeinsamen Schleier,
träumend oder halbwach. In Italien zuerst verweht dieser Schleier
in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Be-
handlung des Staats und der sämmtlichen Dinge dieser Welt
überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Sub-
jektive
; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt
sich als solches." Was hier als objektive Behandlung bezeichnet
wird, ist zunächst durch die relative Verselbständigung der einzel-
nen Kreise der Existenz bedingt; indem die Wissenschaft die Unter-
ordnung unter das mittelalterliche Schema des religiösen Vorstellens
aufgiebt, zerreißt das Band zwischen den religiösen Ideen als
Mitteln der Konstruktion und der Wirklichkeit; man wird in un-
befangener Auffassung dieser gewahr, und so entsteht objektive Be-
trachtung und positive Wissenschaft, wo ehedem metaphy-
sische Ableitung das Phänomen mit dem Tiefsten des geistigen
Gesammtlebens verbunden gehalten hatte. Andrerseits bewirkte die
veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organisation
der Gesellschaft eine Befreiung der individuellen Kräfte und des
individuellen Selbstgefühls. So entstand eine neue Stellung

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Wie in ihm das moderne wiſſenſchaftliche Bewußtſein entſteht.
tionen in der Gebundenheit der Seelenkräfte naturgemäß begonnen
hatten. Sie iſt aber zugleich eine Wiederherſtellung des von den
Griechen Erarbeiteten und im Chriſtenthum Gewonnenen, und daher
ſind Humanismus und Reformation hervorragende Beſtandtheile des
Vorganges, in welchem unſer modernes Bewußtſein entſtand. —
Zu dieſer Differenzirung trat als eine andere Seite der geſchichtlichen
Bewegung, welche dem modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſein
das Leben gab, die Veränderung in der äußeren Organiſation der
Geſellſchaft, welche alle individuellen Kräfte löſte und das In-
dividuum verſelbſtändigte. Innerhalb der Städte vollzog ſich
zuerſt dieſe ſoziale und politiſche Umgeſtaltung. In den Zuſammen-
hang unſerer Darlegung fügt ſich harmoniſch das klaſſiſche Ge-
mälde ein, welches Jakob Burckhardt von dem erſten Auftreten des
modernen Menſchen in dem Italien der Renaiſſance entworfen
hat. „Im Mittelalter, ſagt er, lagen die beiden Seiten des Be-
wußtſeins — nach der Welt hin und nach dem Inneren des
Menſchen ſelbſt — wie unter einem gemeinſamen Schleier,
träumend oder halbwach. In Italien zuerſt verweht dieſer Schleier
in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Be-
handlung des Staats und der ſämmtlichen Dinge dieſer Welt
überhaupt; daneben aber erhebt ſich mit voller Macht das Sub-
jektive
; der Menſch wird geiſtiges Individuum und erkennt
ſich als ſolches.“ Was hier als objektive Behandlung bezeichnet
wird, iſt zunächſt durch die relative Verſelbſtändigung der einzel-
nen Kreiſe der Exiſtenz bedingt; indem die Wiſſenſchaft die Unter-
ordnung unter das mittelalterliche Schema des religiöſen Vorſtellens
aufgiebt, zerreißt das Band zwiſchen den religiöſen Ideen als
Mitteln der Konſtruktion und der Wirklichkeit; man wird in un-
befangener Auffaſſung dieſer gewahr, und ſo entſteht objektive Be-
trachtung und poſitive Wiſſenſchaft, wo ehedem metaphy-
ſiſche Ableitung das Phänomen mit dem Tiefſten des geiſtigen
Geſammtlebens verbunden gehalten hatte. Andrerſeits bewirkte die
veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft eine Befreiung der individuellen Kräfte und des
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[451/0474] Wie in ihm das moderne wiſſenſchaftliche Bewußtſein entſteht. tionen in der Gebundenheit der Seelenkräfte naturgemäß begonnen hatten. Sie iſt aber zugleich eine Wiederherſtellung des von den Griechen Erarbeiteten und im Chriſtenthum Gewonnenen, und daher ſind Humanismus und Reformation hervorragende Beſtandtheile des Vorganges, in welchem unſer modernes Bewußtſein entſtand. — Zu dieſer Differenzirung trat als eine andere Seite der geſchichtlichen Bewegung, welche dem modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſein das Leben gab, die Veränderung in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft, welche alle individuellen Kräfte löſte und das In- dividuum verſelbſtändigte. Innerhalb der Städte vollzog ſich zuerſt dieſe ſoziale und politiſche Umgeſtaltung. In den Zuſammen- hang unſerer Darlegung fügt ſich harmoniſch das klaſſiſche Ge- mälde ein, welches Jakob Burckhardt von dem erſten Auftreten des modernen Menſchen in dem Italien der Renaiſſance entworfen hat. „Im Mittelalter, ſagt er, lagen die beiden Seiten des Be- wußtſeins — nach der Welt hin und nach dem Inneren des Menſchen ſelbſt — wie unter einem gemeinſamen Schleier, träumend oder halbwach. In Italien zuerſt verweht dieſer Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Be- handlung des Staats und der ſämmtlichen Dinge dieſer Welt überhaupt; daneben aber erhebt ſich mit voller Macht das Sub- jektive; der Menſch wird geiſtiges Individuum und erkennt ſich als ſolches.“ Was hier als objektive Behandlung bezeichnet wird, iſt zunächſt durch die relative Verſelbſtändigung der einzel- nen Kreiſe der Exiſtenz bedingt; indem die Wiſſenſchaft die Unter- ordnung unter das mittelalterliche Schema des religiöſen Vorſtellens aufgiebt, zerreißt das Band zwiſchen den religiöſen Ideen als Mitteln der Konſtruktion und der Wirklichkeit; man wird in un- befangener Auffaſſung dieſer gewahr, und ſo entſteht objektive Be- trachtung und poſitive Wiſſenſchaft, wo ehedem metaphy- ſiſche Ableitung das Phänomen mit dem Tiefſten des geiſtigen Geſammtlebens verbunden gehalten hatte. Andrerſeits bewirkte die veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft eine Befreiung der individuellen Kräfte und des individuellen Selbſtgefühls. So entſtand eine neue Stellung 29*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/474>, abgerufen am 28.11.2024.