Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
falten sahen, und der nun für die Entstehung wie das Recht
des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins in
seinem Gegensatz zu der metaphysischen Stellung des Menschen
entscheidend ist. -- Der Zweckzusammenhang der Erkenntniß
in Europa hat sich in der Wissenschaft von seiner Grundlage in
der Totalität der Menschennatur abgelöst, wie neben ihm die Kunst
oder in anderer Art das Recht. Auf dieser Differenzirung beruht
nicht nur die technische Vollendung der großen Zwecksysteme der
menschlichen Gesellschaft, sondern, als innerster Kern des Vorgangs,
das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelseele aus ihrer anfäng-
lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem
Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder
unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und
in genauer und sicherer Abmessung auf die Wirkung zu benutzen.
Die ursprüngliche Bindung der Seelenkräfte löst sich durch die
Arbeit der Geschichte. Denn erst vermittelst der Kunst besitzt
das Gefühl sein mannichfaches, wechselndes und reiches Leben; die
Werke der Künstler strahlen ihm wie in einem Wunderspiegel in
Bildern, Wahrnehmungen, Vorstellungen seine innere Welt erhöht
zurück. In der Arbeit der Wissenschaft erkennt erst der Intellekt
seine Mittel und deren Tragweite, seine Methode und deren
Macht und gebraucht nun mit der technischen Virtuosität gleichsam
des logischen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.

Der mittelalterliche Mensch hatte die in der alten Welt
erreichte Differenzirung nur unvollkommen festgehalten. Wol hatte
er die christliche Erfahrung tiefsinnig entfaltet. In dem katho-
lischen Kirchensystem hatte er die selbständige Macht des religiösen
Lebens und des ihm verbundenen gesellschaftlichen Bewußtseins,
das alle Völker verknüpft, befestigt und vertheidigt, wenn auch
mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider
auch der Gewalt dieses Kirchensystems erwuchs der Zweckzu-
sammenhang der Wissenschaft in den Universitäten ebenfalls zu
einer größeren Organisation, und inmitten des korporativen Lebens
des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbständig-
keitssphäre. Aber die Herrschaft der Religion, welche allen höheren

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
falten ſahen, und der nun für die Entſtehung wie das Recht
des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in
ſeinem Gegenſatz zu der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen
entſcheidend iſt. — Der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß
in Europa hat ſich in der Wiſſenſchaft von ſeiner Grundlage in
der Totalität der Menſchennatur abgelöſt, wie neben ihm die Kunſt
oder in anderer Art das Recht. Auf dieſer Differenzirung beruht
nicht nur die techniſche Vollendung der großen Zweckſyſteme der
menſchlichen Geſellſchaft, ſondern, als innerſter Kern des Vorgangs,
das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelſeele aus ihrer anfäng-
lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem
Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder
unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und
in genauer und ſicherer Abmeſſung auf die Wirkung zu benutzen.
Die urſprüngliche Bindung der Seelenkräfte löſt ſich durch die
Arbeit der Geſchichte. Denn erſt vermittelſt der Kunſt beſitzt
das Gefühl ſein mannichfaches, wechſelndes und reiches Leben; die
Werke der Künſtler ſtrahlen ihm wie in einem Wunderſpiegel in
Bildern, Wahrnehmungen, Vorſtellungen ſeine innere Welt erhöht
zurück. In der Arbeit der Wiſſenſchaft erkennt erſt der Intellekt
ſeine Mittel und deren Tragweite, ſeine Methode und deren
Macht und gebraucht nun mit der techniſchen Virtuoſität gleichſam
des logiſchen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.

Der mittelalterliche Menſch hatte die in der alten Welt
erreichte Differenzirung nur unvollkommen feſtgehalten. Wol hatte
er die chriſtliche Erfahrung tiefſinnig entfaltet. In dem katho-
liſchen Kirchenſyſtem hatte er die ſelbſtändige Macht des religiöſen
Lebens und des ihm verbundenen geſellſchaftlichen Bewußtſeins,
das alle Völker verknüpft, befeſtigt und vertheidigt, wenn auch
mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider
auch der Gewalt dieſes Kirchenſyſtems erwuchs der Zweckzu-
ſammenhang der Wiſſenſchaft in den Univerſitäten ebenfalls zu
einer größeren Organiſation, und inmitten des korporativen Lebens
des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbſtändig-
keitsſphäre. Aber die Herrſchaft der Religion, welche allen höheren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0471" n="448"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Vierter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
falten &#x017F;ahen, und der nun für die <hi rendition="#g">Ent&#x017F;tehung</hi> wie <hi rendition="#g">das Recht</hi><lb/>
des <hi rendition="#g">modernen wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Bewußt&#x017F;eins</hi> in<lb/>
&#x017F;einem Gegen&#x017F;atz zu der metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Stellung des Men&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#g">ent&#x017F;cheidend</hi> i&#x017F;t. &#x2014; Der Zweckzu&#x017F;ammenhang der Erkenntniß<lb/>
in Europa hat &#x017F;ich in der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft von &#x017F;einer Grundlage in<lb/>
der Totalität der Men&#x017F;chennatur abgelö&#x017F;t, wie neben ihm die Kun&#x017F;t<lb/>
oder in anderer Art das Recht. Auf die&#x017F;er Differenzirung beruht<lb/>
nicht nur die techni&#x017F;che Vollendung der großen Zweck&#x017F;y&#x017F;teme der<lb/>
men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, &#x017F;ondern, als inner&#x017F;ter Kern des Vorgangs,<lb/>
das Freiwerden aller Kräfte in der Einzel&#x017F;eele aus ihrer anfäng-<lb/>
lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem<lb/>
Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder<lb/>
unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und<lb/>
in genauer und &#x017F;icherer Abme&#x017F;&#x017F;ung auf die Wirkung zu benutzen.<lb/>
Die ur&#x017F;prüngliche Bindung der Seelenkräfte lö&#x017F;t &#x017F;ich durch die<lb/>
Arbeit der Ge&#x017F;chichte. Denn er&#x017F;t vermittel&#x017F;t der Kun&#x017F;t be&#x017F;itzt<lb/>
das Gefühl &#x017F;ein mannichfaches, wech&#x017F;elndes und reiches Leben; die<lb/>
Werke der Kün&#x017F;tler &#x017F;trahlen ihm wie in einem Wunder&#x017F;piegel in<lb/>
Bildern, Wahrnehmungen, Vor&#x017F;tellungen &#x017F;eine innere Welt erhöht<lb/>
zurück. In der Arbeit der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft erkennt er&#x017F;t der Intellekt<lb/>
&#x017F;eine Mittel und deren Tragweite, &#x017F;eine Methode und deren<lb/>
Macht und gebraucht nun mit der techni&#x017F;chen Virtuo&#x017F;ität gleich&#x017F;am<lb/>
des logi&#x017F;chen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.</p><lb/>
            <p>Der <hi rendition="#g">mittelalterliche Men&#x017F;ch</hi> hatte die in der alten Welt<lb/>
erreichte Differenzirung nur unvollkommen fe&#x017F;tgehalten. Wol hatte<lb/>
er die chri&#x017F;tliche Erfahrung tief&#x017F;innig entfaltet. In dem katho-<lb/>
li&#x017F;chen Kirchen&#x017F;y&#x017F;tem hatte er die &#x017F;elb&#x017F;tändige Macht des religiö&#x017F;en<lb/>
Lebens und des ihm verbundenen ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Bewußt&#x017F;eins,<lb/>
das alle Völker verknüpft, befe&#x017F;tigt und vertheidigt, wenn auch<lb/>
mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider<lb/>
auch der Gewalt die&#x017F;es Kirchen&#x017F;y&#x017F;tems erwuchs der Zweckzu-<lb/>
&#x017F;ammenhang der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft in den Univer&#x017F;itäten ebenfalls zu<lb/>
einer größeren Organi&#x017F;ation, und inmitten des korporativen Lebens<lb/>
des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selb&#x017F;tändig-<lb/>
keits&#x017F;phäre. Aber die Herr&#x017F;chaft der Religion, welche allen höheren<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[448/0471] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. falten ſahen, und der nun für die Entſtehung wie das Recht des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins in ſeinem Gegenſatz zu der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen entſcheidend iſt. — Der Zweckzuſammenhang der Erkenntniß in Europa hat ſich in der Wiſſenſchaft von ſeiner Grundlage in der Totalität der Menſchennatur abgelöſt, wie neben ihm die Kunſt oder in anderer Art das Recht. Auf dieſer Differenzirung beruht nicht nur die techniſche Vollendung der großen Zweckſyſteme der menſchlichen Geſellſchaft, ſondern, als innerſter Kern des Vorgangs, das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelſeele aus ihrer anfäng- lichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und in genauer und ſicherer Abmeſſung auf die Wirkung zu benutzen. Die urſprüngliche Bindung der Seelenkräfte löſt ſich durch die Arbeit der Geſchichte. Denn erſt vermittelſt der Kunſt beſitzt das Gefühl ſein mannichfaches, wechſelndes und reiches Leben; die Werke der Künſtler ſtrahlen ihm wie in einem Wunderſpiegel in Bildern, Wahrnehmungen, Vorſtellungen ſeine innere Welt erhöht zurück. In der Arbeit der Wiſſenſchaft erkennt erſt der Intellekt ſeine Mittel und deren Tragweite, ſeine Methode und deren Macht und gebraucht nun mit der techniſchen Virtuoſität gleichſam des logiſchen Athleten die in ihm liegenden Kräfte. Der mittelalterliche Menſch hatte die in der alten Welt erreichte Differenzirung nur unvollkommen feſtgehalten. Wol hatte er die chriſtliche Erfahrung tiefſinnig entfaltet. In dem katho- liſchen Kirchenſyſtem hatte er die ſelbſtändige Macht des religiöſen Lebens und des ihm verbundenen geſellſchaftlichen Bewußtſeins, das alle Völker verknüpft, befeſtigt und vertheidigt, wenn auch mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider auch der Gewalt dieſes Kirchenſyſtems erwuchs der Zweckzu- ſammenhang der Wiſſenſchaft in den Univerſitäten ebenfalls zu einer größeren Organiſation, und inmitten des korporativen Lebens des Mittelalters rang auch er nach einer rechtlichen Selbſtändig- keitsſphäre. Aber die Herrſchaft der Religion, welche allen höheren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/471
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/471>, abgerufen am 24.11.2024.