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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.

Und zwar haben die Wissenschaften des Menschen, der Gesellschaft
und der Geschichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, sofern
die psycho-physischen Einheiten selber nur mit Hilfe der Biologie
studirt werden können, alsdann aber, sofern das Mittel, in dem ihre
Entwicklung und ihre Zweckthätigkeit stattfindet, auf dessen Beherr-
schung also diese letztere sich zu einem großen Theile bezieht, die Natur
ist. In der ersteren Rücksicht bilden die Wissenschaften des Organis-
mus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganischen
Natur. Und zwar besteht der so aufzuklärende Zusammenhang ein-
mal darin, daß diese Naturbedingungen Entwicklung und Vertheilung
des geistigen Lebens auf der Erdoberfläche bestimmen, alsdann
darin, daß die Zweckthätigkeit des Menschen an die Gesetze der Natur
gebunden und so durch ihre Erkenntniß und Benutzung bedingt
ist. Daher zeigt das erstere Verhältniß nur Abhängigkeit des
Menschen von der Natur, das zweite aber enthält diese Abhängig-
keit nur als die andere Seite der Geschichte seiner zunehmenden
Herrschaft über das Erdganze. Derjenige Theil des ersteren Verhält-
nisses, welcher die Beziehungen des Menschen zu der umgebenden Natur
einschließt, ist von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen
worden. Glänzende Blicke, wie besonders seine vergleichende Schätzung
der Erdtheile nach der Gliederung ihrer Umrisse, ließen eine in den
Raumverhältnissen des Erdganzen festgelegte Prädestination der
Universalgeschichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben diese
bei Ritter als Teleologie der Universalgeschichte gedachte, von einem
Buckle in den Dienst des Naturalismus gezogene Anschauung doch
nicht bestätigt: an die Stelle der Vorstellung einer gleichmäßigen
Abhängigkeit des Menschen von den Naturbedingungen tritt die
vorsichtigere Vorstellung, daß das Ringen der geistig-sittlichen
Kräfte mit den Bedingungen der todten Räumlichkeit bei den ge-
schichtlichen Völkern, im Gegensatz zu den geschichtslosen, das
Verhältniß von Abhängigkeit beständig vermindert hat. Und so
hat auch hier eine selbständige, die Naturbedingungen zur Er-
klärung benutzende Wissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen
Wirklichkeit sich behauptet. Das andere Verhältniß aber zeigt mit
der Abhängigkeit, welche durch die Anpassung an die Bedingungen

Erſtes einleitendes Buch.

Und zwar haben die Wiſſenſchaften des Menſchen, der Geſellſchaft
und der Geſchichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, ſofern
die pſycho-phyſiſchen Einheiten ſelber nur mit Hilfe der Biologie
ſtudirt werden können, alsdann aber, ſofern das Mittel, in dem ihre
Entwicklung und ihre Zweckthätigkeit ſtattfindet, auf deſſen Beherr-
ſchung alſo dieſe letztere ſich zu einem großen Theile bezieht, die Natur
iſt. In der erſteren Rückſicht bilden die Wiſſenſchaften des Organis-
mus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganiſchen
Natur. Und zwar beſteht der ſo aufzuklärende Zuſammenhang ein-
mal darin, daß dieſe Naturbedingungen Entwicklung und Vertheilung
des geiſtigen Lebens auf der Erdoberfläche beſtimmen, alsdann
darin, daß die Zweckthätigkeit des Menſchen an die Geſetze der Natur
gebunden und ſo durch ihre Erkenntniß und Benutzung bedingt
iſt. Daher zeigt das erſtere Verhältniß nur Abhängigkeit des
Menſchen von der Natur, das zweite aber enthält dieſe Abhängig-
keit nur als die andere Seite der Geſchichte ſeiner zunehmenden
Herrſchaft über das Erdganze. Derjenige Theil des erſteren Verhält-
niſſes, welcher die Beziehungen des Menſchen zu der umgebenden Natur
einſchließt, iſt von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen
worden. Glänzende Blicke, wie beſonders ſeine vergleichende Schätzung
der Erdtheile nach der Gliederung ihrer Umriſſe, ließen eine in den
Raumverhältniſſen des Erdganzen feſtgelegte Prädeſtination der
Univerſalgeſchichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben dieſe
bei Ritter als Teleologie der Univerſalgeſchichte gedachte, von einem
Buckle in den Dienſt des Naturalismus gezogene Anſchauung doch
nicht beſtätigt: an die Stelle der Vorſtellung einer gleichmäßigen
Abhängigkeit des Menſchen von den Naturbedingungen tritt die
vorſichtigere Vorſtellung, daß das Ringen der geiſtig-ſittlichen
Kräfte mit den Bedingungen der todten Räumlichkeit bei den ge-
ſchichtlichen Völkern, im Gegenſatz zu den geſchichtsloſen, das
Verhältniß von Abhängigkeit beſtändig vermindert hat. Und ſo
hat auch hier eine ſelbſtändige, die Naturbedingungen zur Er-
klärung benutzende Wiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen
Wirklichkeit ſich behauptet. Das andere Verhältniß aber zeigt mit
der Abhängigkeit, welche durch die Anpaſſung an die Bedingungen

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[24/0047] Erſtes einleitendes Buch. Und zwar haben die Wiſſenſchaften des Menſchen, der Geſellſchaft und der Geſchichte einmal die der Natur zu ihrer Grundlage, ſofern die pſycho-phyſiſchen Einheiten ſelber nur mit Hilfe der Biologie ſtudirt werden können, alsdann aber, ſofern das Mittel, in dem ihre Entwicklung und ihre Zweckthätigkeit ſtattfindet, auf deſſen Beherr- ſchung alſo dieſe letztere ſich zu einem großen Theile bezieht, die Natur iſt. In der erſteren Rückſicht bilden die Wiſſenſchaften des Organis- mus ihre Grundlage, in der zweiten vorwiegend die der anorganiſchen Natur. Und zwar beſteht der ſo aufzuklärende Zuſammenhang ein- mal darin, daß dieſe Naturbedingungen Entwicklung und Vertheilung des geiſtigen Lebens auf der Erdoberfläche beſtimmen, alsdann darin, daß die Zweckthätigkeit des Menſchen an die Geſetze der Natur gebunden und ſo durch ihre Erkenntniß und Benutzung bedingt iſt. Daher zeigt das erſtere Verhältniß nur Abhängigkeit des Menſchen von der Natur, das zweite aber enthält dieſe Abhängig- keit nur als die andere Seite der Geſchichte ſeiner zunehmenden Herrſchaft über das Erdganze. Derjenige Theil des erſteren Verhält- niſſes, welcher die Beziehungen des Menſchen zu der umgebenden Natur einſchließt, iſt von Ritter einer vergleichenden Methode unterworfen worden. Glänzende Blicke, wie beſonders ſeine vergleichende Schätzung der Erdtheile nach der Gliederung ihrer Umriſſe, ließen eine in den Raumverhältniſſen des Erdganzen feſtgelegte Prädeſtination der Univerſalgeſchichte ahnen. Die folgenden Arbeiten haben dieſe bei Ritter als Teleologie der Univerſalgeſchichte gedachte, von einem Buckle in den Dienſt des Naturalismus gezogene Anſchauung doch nicht beſtätigt: an die Stelle der Vorſtellung einer gleichmäßigen Abhängigkeit des Menſchen von den Naturbedingungen tritt die vorſichtigere Vorſtellung, daß das Ringen der geiſtig-ſittlichen Kräfte mit den Bedingungen der todten Räumlichkeit bei den ge- ſchichtlichen Völkern, im Gegenſatz zu den geſchichtsloſen, das Verhältniß von Abhängigkeit beſtändig vermindert hat. Und ſo hat auch hier eine ſelbſtändige, die Naturbedingungen zur Er- klärung benutzende Wiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit ſich behauptet. Das andere Verhältniß aber zeigt mit der Abhängigkeit, welche durch die Anpaſſung an die Bedingungen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/47>, abgerufen am 21.11.2024.