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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
über den Aufgaben des mittelalterlichen Denkens zu Grunde
gegangen: in der mächtigen Realität des Willens fand er nun
auch hier innerhalb der Gesellschaftslehre seine höhere Berechtigung.
Die geistesgewaltigen kirchenpolitischen Schriften Occam's zer-
störten in weitläufiger Darlegung von Gründen und Gegen-
gründen jeden Theil des rationalen Zusammenhangs einer Philo-
sophie der Geschichte und der Gesellschaft 1). Und mit Recht;
denn wirklich ist die Demonstration unfähig gewesen, die mittel-
alterliche Gesellschaftslehre einigermaßen zu begründen. Die Folge-
richtigkeit des Schlusses versagt, wo aus dem theokratischen Prin-
zip der Dualismus von Staat und Kirche abgeleitet oder über
Streitfragen, wie das Verhältniß von Staat und Kirche, von
Weltmonarchie und Einzelstaat durch Syllogismen entschieden
werden soll.



Vierter Abschnitt.
Die Auflösung der metaphysischen Stellung des Menschen zur
Wirklichkeit.


Erstes Kapitel.
Die Bedingungen des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins.

Die zweite Generation der europäischen Völker erfuhr nun
eine Umwandlung, welche der ähnlich ist, die in Griechenland
aus der Auflösung der alten Geschlechterverfassung hervorging.
Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Christenheit

1) Das Prinzip Occam's, welches die sittliche Ordnung mit dem Willen
in sein psychologisches Verhältniß setzte, das was dem Willen werthvoll ist
von dem klar sonderte, was dem Verstande wahr ist, und so jede Meta-
physik der sittlichen Welt aufhob, trat freilich zunächst in überspannter
Fassung auf z. B. in sent. II quaest. 19: ea est boni et mali moralis
natura ut, cum a liberrima Dei voluntate sancita sit et definita, ab eadem
facile possit emoveri et refigi: adeo ut mutata ea voluntate, quod
sanctum et justum est possit evadere injustum.
Hierdurch
war dann der extreme Supranaturalismus Occam's bedingt.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
über den Aufgaben des mittelalterlichen Denkens zu Grunde
gegangen: in der mächtigen Realität des Willens fand er nun
auch hier innerhalb der Geſellſchaftslehre ſeine höhere Berechtigung.
Die geiſtesgewaltigen kirchenpolitiſchen Schriften Occam’s zer-
ſtörten in weitläufiger Darlegung von Gründen und Gegen-
gründen jeden Theil des rationalen Zuſammenhangs einer Philo-
ſophie der Geſchichte und der Geſellſchaft 1). Und mit Recht;
denn wirklich iſt die Demonſtration unfähig geweſen, die mittel-
alterliche Geſellſchaftslehre einigermaßen zu begründen. Die Folge-
richtigkeit des Schluſſes verſagt, wo aus dem theokratiſchen Prin-
zip der Dualismus von Staat und Kirche abgeleitet oder über
Streitfragen, wie das Verhältniß von Staat und Kirche, von
Weltmonarchie und Einzelſtaat durch Syllogismen entſchieden
werden ſoll.



Vierter Abſchnitt.
Die Auflöſung der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen zur
Wirklichkeit.


Erſtes Kapitel.
Die Bedingungen des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins.

Die zweite Generation der europäiſchen Völker erfuhr nun
eine Umwandlung, welche der ähnlich iſt, die in Griechenland
aus der Auflöſung der alten Geſchlechterverfaſſung hervorging.
Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Chriſtenheit

1) Das Prinzip Occam’s, welches die ſittliche Ordnung mit dem Willen
in ſein pſychologiſches Verhältniß ſetzte, das was dem Willen werthvoll iſt
von dem klar ſonderte, was dem Verſtande wahr iſt, und ſo jede Meta-
phyſik der ſittlichen Welt aufhob, trat freilich zunächſt in überſpannter
Faſſung auf z. B. in sent. II quaest. 19: ea est boni et mali moralis
natura ut, cum a liberrima Dei voluntate sancita sit et definita, ab eadem
facile possit emoveri et refigi: adeo ut mutata ea voluntate, quod
sanctum et justum est possit evadere injustum.
Hierdurch
war dann der extreme Supranaturalismus Occam’s bedingt.
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[446/0469] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. über den Aufgaben des mittelalterlichen Denkens zu Grunde gegangen: in der mächtigen Realität des Willens fand er nun auch hier innerhalb der Geſellſchaftslehre ſeine höhere Berechtigung. Die geiſtesgewaltigen kirchenpolitiſchen Schriften Occam’s zer- ſtörten in weitläufiger Darlegung von Gründen und Gegen- gründen jeden Theil des rationalen Zuſammenhangs einer Philo- ſophie der Geſchichte und der Geſellſchaft 1). Und mit Recht; denn wirklich iſt die Demonſtration unfähig geweſen, die mittel- alterliche Geſellſchaftslehre einigermaßen zu begründen. Die Folge- richtigkeit des Schluſſes verſagt, wo aus dem theokratiſchen Prin- zip der Dualismus von Staat und Kirche abgeleitet oder über Streitfragen, wie das Verhältniß von Staat und Kirche, von Weltmonarchie und Einzelſtaat durch Syllogismen entſchieden werden ſoll. Vierter Abſchnitt. Die Auflöſung der metaphyſiſchen Stellung des Menſchen zur Wirklichkeit. Erſtes Kapitel. Die Bedingungen des modernen wiſſenſchaftlichen Bewußtſeins. Die zweite Generation der europäiſchen Völker erfuhr nun eine Umwandlung, welche der ähnlich iſt, die in Griechenland aus der Auflöſung der alten Geſchlechterverfaſſung hervorging. Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Chriſtenheit 1) Das Prinzip Occam’s, welches die ſittliche Ordnung mit dem Willen in ſein pſychologiſches Verhältniß ſetzte, das was dem Willen werthvoll iſt von dem klar ſonderte, was dem Verſtande wahr iſt, und ſo jede Meta- phyſik der ſittlichen Welt aufhob, trat freilich zunächſt in überſpannter Faſſung auf z. B. in sent. II quaest. 19: ea est boni et mali moralis natura ut, cum a liberrima Dei voluntate sancita sit et definita, ab eadem facile possit emoveri et refigi: adeo ut mutata ea voluntate, quod sanctum et justum est possit evadere injustum. Hierdurch war dann der extreme Supranaturalismus Occam’s bedingt.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/469>, abgerufen am 22.12.2024.