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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Logischer Zusammenhang dieser Metaphysik der Gesellschaft.
tiven Wissenschaft der Politik entwickelt und hat an den verän-
derlichen Lebensbedingungen der Gesellschaft nur seinen wechseln-
den Stoff. So tief Aristoteles das Verhältniß der Lebens-
bedingungen der Staaten zu den politischen Formen aufgefaßt
hat: die Entwicklung der Zweckzusammenhänge des menschlichen
Lebens bedarf nach ihm nicht einen immer neuen, dem veränderten
Gehalt entsprechenden Ausdruck in den politischen Verfassungen,
sondern die Bedingungen der Gesellschaft ermöglichen, gleichsam
als die Materie der Staatenbildung, hier eine geringere, dort
eine höhere Ausgestaltung der Einen Idealform. Dem Christen-
thum
wird Gott geschichtlich. Die vom Christenthum getragene
mittelalterliche Gesellschaftslehre benutzt zuerst die Idee eines gött-
lichen Willens, welcher eine aufsteigende Reihe von Veränderungen
als Zweck enthält und in der Zeitreihe einzelner Willensakte, in
Wechselwirkung mit anderen Willen, diesen Zweck verwirklicht. Die
Gottheit tritt in die Zeit ein. So oft nun die mittelalterliche Meta-
physik das griechische System ewiger Wahrheiten mit dem Plane
Gottes vereinigen will, zeigt sich die Unauflösbarkeit des Wider-
spruchs. Denn die lebendige persönliche Erfahrung des Willens,
welcher Bedürfniß und Veränderung einschließt, kann nicht in
Einklang gebracht werden mit der unveränderlichen Welt ewiger
Gedanken, in denen der Intellekt die nothwendige und allgemein-
gültige Wahrheit besitzt 1). -- Erkenntnißtheoretisch widerspricht die
spekulative Konstruktion aus Begriffen der willkürlichen That-
sächlichkeit, die den Entscheidungen eines freien göttlichen Willens
eigen ist. Daher löste die Willenslehre Occam's die objektive Me-
taphysik des Mittelalters auf, und war der Nominalismus
in seinem ersten Stadium an seiner unfruchtbaren Negativität gegen-

1) Augustinus de civ. Dei XI c. 10: neque enim multae sed una
sapientia est, in qua sunt immensi quidam atque infiniti thesauri rerum
intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles
rationes rerum etiam visibilium et mutabilium; de trinitate IV c. 1: quia
igitur unum verbum dei est, per quod facta sunt omnia, quod est in-
commutabilis
veritas, ibi principaliter et incommutabiliter sunt omnia
simul
. Auflösung sucht Augustinus vergebens in dem Satz de trinitate II
c. 5: ordo temporum in aeterna Dei sapientia sine tempore est
.

Logiſcher Zuſammenhang dieſer Metaphyſik der Geſellſchaft.
tiven Wiſſenſchaft der Politik entwickelt und hat an den verän-
derlichen Lebensbedingungen der Geſellſchaft nur ſeinen wechſeln-
den Stoff. So tief Ariſtoteles das Verhältniß der Lebens-
bedingungen der Staaten zu den politiſchen Formen aufgefaßt
hat: die Entwicklung der Zweckzuſammenhänge des menſchlichen
Lebens bedarf nach ihm nicht einen immer neuen, dem veränderten
Gehalt entſprechenden Ausdruck in den politiſchen Verfaſſungen,
ſondern die Bedingungen der Geſellſchaft ermöglichen, gleichſam
als die Materie der Staatenbildung, hier eine geringere, dort
eine höhere Ausgeſtaltung der Einen Idealform. Dem Chriſten-
thum
wird Gott geſchichtlich. Die vom Chriſtenthum getragene
mittelalterliche Geſellſchaftslehre benutzt zuerſt die Idee eines gött-
lichen Willens, welcher eine aufſteigende Reihe von Veränderungen
als Zweck enthält und in der Zeitreihe einzelner Willensakte, in
Wechſelwirkung mit anderen Willen, dieſen Zweck verwirklicht. Die
Gottheit tritt in die Zeit ein. So oft nun die mittelalterliche Meta-
phyſik das griechiſche Syſtem ewiger Wahrheiten mit dem Plane
Gottes vereinigen will, zeigt ſich die Unauflösbarkeit des Wider-
ſpruchs. Denn die lebendige perſönliche Erfahrung des Willens,
welcher Bedürfniß und Veränderung einſchließt, kann nicht in
Einklang gebracht werden mit der unveränderlichen Welt ewiger
Gedanken, in denen der Intellekt die nothwendige und allgemein-
gültige Wahrheit beſitzt 1). — Erkenntnißtheoretiſch widerſpricht die
ſpekulative Konſtruktion aus Begriffen der willkürlichen That-
ſächlichkeit, die den Entſcheidungen eines freien göttlichen Willens
eigen iſt. Daher löſte die Willenslehre Occam’s die objektive Me-
taphyſik des Mittelalters auf, und war der Nominalismus
in ſeinem erſten Stadium an ſeiner unfruchtbaren Negativität gegen-

1) Auguſtinus de civ. Dei XI c. 10: neque enim multae sed una
sapientia est, in qua sunt immensi quidam atque infiniti thesauri rerum
intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles
rationes rerum etiam visibilium et mutabilium; de trinitate IV c. 1: quia
igitur unum verbum dei est, per quod facta sunt omnia, quod est in-
commutabilis
veritas, ibi principaliter et incommutabiliter sunt omnia
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. Auflöſung ſucht Auguſtinus vergebens in dem Satz de trinitate II
c. 5: ordo temporum in aeterna Dei sapientia sine tempore est
.
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[445/0468] Logiſcher Zuſammenhang dieſer Metaphyſik der Geſellſchaft. tiven Wiſſenſchaft der Politik entwickelt und hat an den verän- derlichen Lebensbedingungen der Geſellſchaft nur ſeinen wechſeln- den Stoff. So tief Ariſtoteles das Verhältniß der Lebens- bedingungen der Staaten zu den politiſchen Formen aufgefaßt hat: die Entwicklung der Zweckzuſammenhänge des menſchlichen Lebens bedarf nach ihm nicht einen immer neuen, dem veränderten Gehalt entſprechenden Ausdruck in den politiſchen Verfaſſungen, ſondern die Bedingungen der Geſellſchaft ermöglichen, gleichſam als die Materie der Staatenbildung, hier eine geringere, dort eine höhere Ausgeſtaltung der Einen Idealform. Dem Chriſten- thum wird Gott geſchichtlich. Die vom Chriſtenthum getragene mittelalterliche Geſellſchaftslehre benutzt zuerſt die Idee eines gött- lichen Willens, welcher eine aufſteigende Reihe von Veränderungen als Zweck enthält und in der Zeitreihe einzelner Willensakte, in Wechſelwirkung mit anderen Willen, dieſen Zweck verwirklicht. Die Gottheit tritt in die Zeit ein. So oft nun die mittelalterliche Meta- phyſik das griechiſche Syſtem ewiger Wahrheiten mit dem Plane Gottes vereinigen will, zeigt ſich die Unauflösbarkeit des Wider- ſpruchs. Denn die lebendige perſönliche Erfahrung des Willens, welcher Bedürfniß und Veränderung einſchließt, kann nicht in Einklang gebracht werden mit der unveränderlichen Welt ewiger Gedanken, in denen der Intellekt die nothwendige und allgemein- gültige Wahrheit beſitzt 1). — Erkenntnißtheoretiſch widerſpricht die ſpekulative Konſtruktion aus Begriffen der willkürlichen That- ſächlichkeit, die den Entſcheidungen eines freien göttlichen Willens eigen iſt. Daher löſte die Willenslehre Occam’s die objektive Me- taphyſik des Mittelalters auf, und war der Nominalismus in ſeinem erſten Stadium an ſeiner unfruchtbaren Negativität gegen- 1) Auguſtinus de civ. Dei XI c. 10: neque enim multae sed una sapientia est, in qua sunt immensi quidam atque infiniti thesauri rerum intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles rationes rerum etiam visibilium et mutabilium; de trinitate IV c. 1: quia igitur unum verbum dei est, per quod facta sunt omnia, quod est in- commutabilis veritas, ibi principaliter et incommutabiliter sunt omnia simul. Auflöſung ſucht Auguſtinus vergebens in dem Satz de trinitate II c. 5: ordo temporum in aeterna Dei sapientia sine tempore est.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/468>, abgerufen am 28.11.2024.