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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Willenseinheit in der äußeren Organisation der Gesellschaft nicht
aus Uebertragung des göttlichen Herrschaftsrechtes, sondern durch
ein von den Einzelwillen ausgehendes pactum subjectionis, so-
nach durch eine Konstruktion von unten, von den Elementen des
Staatslebens aus. Sie führte den Grundgedanken des griechischen
Naturrechtes fort. Aber wenn dieses das Problem einer mechanischen
Erklärung der politischen Willenseinheiten aus der Anarchie der
gesellschaftlichen Atome ganz allgemein vorgestellt hatte und wir
es so als eine Metaphysik der Gesellschaft bezeichnen konnten, so
verfolgte das Mittelalter das schon von den Römern eingeschlagene
Verfahren, diese griechischen Spekulationen mit der positiven
Jurisprudenz in Beziehung zu setzen. Unter der Hand der Kano-
nisten und Legisten war der Begriff der Korporation zu dem
herrschenden auf dem Gebiet der äußeren Organisation der Gesell-
schaft geworden und wurde auf Staat wie Kirche angewandt.
Die juristische Konstruktion dieses Begriffs ließ aus einem kon-
stituirenden Akte die einheitliche Rechtssubjektivität der Korporation,
vermöge deren sie Person ist, entspringen. So wurde die Kon-
struktion der Willenseinheit in einem politischen Ganzen durch
einen solchen Akt Mittelpunkt jeder publizistischen Theorie, und
die Mitwirkung oder die ausschließliche Wirksamkeit der ver-
einigten Willen in dem Akte, durch welchen der Staat entsteht, gaben
diesem den Charakter eines Vertrags. Grundvorstellungen des
älteren deutschen Rechtes, dann die Rechtsfabel von einem konstitu-
irenden Akte, in welchem das römische Volk die Herrschaft auf den
Imperator übertragen habe, weiter die Einwirkung der griechischen
Theorien, endlich das Selbstregiment freier Kommunen in Italien,
dem wichtigsten Lande für die politische Theorie jener Zeit: dies
Alles ließ die naturrechtliche Strömung anwachsen. Von der
Wende des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ab formirte
sich systematisch die juristische Konstruktion aus den Einzelwillen
und ihrem Vertrag. Gesellschaftsvertrag, Souveränität des Volkes,
Einschränkung des positiven Rechtes durch das Naturrecht traten
in das öffentliche Recht ein. Diese positiv-rechtliche Fortent-
wicklung des Naturrechts verstärkte seine revolutionäre Kraft für

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Willenseinheit in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nicht
aus Uebertragung des göttlichen Herrſchaftsrechtes, ſondern durch
ein von den Einzelwillen ausgehendes pactum subjectionis, ſo-
nach durch eine Konſtruktion von unten, von den Elementen des
Staatslebens aus. Sie führte den Grundgedanken des griechiſchen
Naturrechtes fort. Aber wenn dieſes das Problem einer mechaniſchen
Erklärung der politiſchen Willenseinheiten aus der Anarchie der
geſellſchaftlichen Atome ganz allgemein vorgeſtellt hatte und wir
es ſo als eine Metaphyſik der Geſellſchaft bezeichnen konnten, ſo
verfolgte das Mittelalter das ſchon von den Römern eingeſchlagene
Verfahren, dieſe griechiſchen Spekulationen mit der poſitiven
Jurisprudenz in Beziehung zu ſetzen. Unter der Hand der Kano-
niſten und Legiſten war der Begriff der Korporation zu dem
herrſchenden auf dem Gebiet der äußeren Organiſation der Geſell-
ſchaft geworden und wurde auf Staat wie Kirche angewandt.
Die juriſtiſche Konſtruktion dieſes Begriffs ließ aus einem kon-
ſtituirenden Akte die einheitliche Rechtsſubjektivität der Korporation,
vermöge deren ſie Perſon iſt, entſpringen. So wurde die Kon-
ſtruktion der Willenseinheit in einem politiſchen Ganzen durch
einen ſolchen Akt Mittelpunkt jeder publiziſtiſchen Theorie, und
die Mitwirkung oder die ausſchließliche Wirkſamkeit der ver-
einigten Willen in dem Akte, durch welchen der Staat entſteht, gaben
dieſem den Charakter eines Vertrags. Grundvorſtellungen des
älteren deutſchen Rechtes, dann die Rechtsfabel von einem konſtitu-
irenden Akte, in welchem das römiſche Volk die Herrſchaft auf den
Imperator übertragen habe, weiter die Einwirkung der griechiſchen
Theorien, endlich das Selbſtregiment freier Kommunen in Italien,
dem wichtigſten Lande für die politiſche Theorie jener Zeit: dies
Alles ließ die naturrechtliche Strömung anwachſen. Von der
Wende des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ab formirte
ſich ſyſtematiſch die juriſtiſche Konſtruktion aus den Einzelwillen
und ihrem Vertrag. Geſellſchaftsvertrag, Souveränität des Volkes,
Einſchränkung des poſitiven Rechtes durch das Naturrecht traten
in das öffentliche Recht ein. Dieſe poſitiv-rechtliche Fortent-
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[442/0465] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Willenseinheit in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft nicht aus Uebertragung des göttlichen Herrſchaftsrechtes, ſondern durch ein von den Einzelwillen ausgehendes pactum subjectionis, ſo- nach durch eine Konſtruktion von unten, von den Elementen des Staatslebens aus. Sie führte den Grundgedanken des griechiſchen Naturrechtes fort. Aber wenn dieſes das Problem einer mechaniſchen Erklärung der politiſchen Willenseinheiten aus der Anarchie der geſellſchaftlichen Atome ganz allgemein vorgeſtellt hatte und wir es ſo als eine Metaphyſik der Geſellſchaft bezeichnen konnten, ſo verfolgte das Mittelalter das ſchon von den Römern eingeſchlagene Verfahren, dieſe griechiſchen Spekulationen mit der poſitiven Jurisprudenz in Beziehung zu ſetzen. Unter der Hand der Kano- niſten und Legiſten war der Begriff der Korporation zu dem herrſchenden auf dem Gebiet der äußeren Organiſation der Geſell- ſchaft geworden und wurde auf Staat wie Kirche angewandt. Die juriſtiſche Konſtruktion dieſes Begriffs ließ aus einem kon- ſtituirenden Akte die einheitliche Rechtsſubjektivität der Korporation, vermöge deren ſie Perſon iſt, entſpringen. So wurde die Kon- ſtruktion der Willenseinheit in einem politiſchen Ganzen durch einen ſolchen Akt Mittelpunkt jeder publiziſtiſchen Theorie, und die Mitwirkung oder die ausſchließliche Wirkſamkeit der ver- einigten Willen in dem Akte, durch welchen der Staat entſteht, gaben dieſem den Charakter eines Vertrags. Grundvorſtellungen des älteren deutſchen Rechtes, dann die Rechtsfabel von einem konſtitu- irenden Akte, in welchem das römiſche Volk die Herrſchaft auf den Imperator übertragen habe, weiter die Einwirkung der griechiſchen Theorien, endlich das Selbſtregiment freier Kommunen in Italien, dem wichtigſten Lande für die politiſche Theorie jener Zeit: dies Alles ließ die naturrechtliche Strömung anwachſen. Von der Wende des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ab formirte ſich ſyſtematiſch die juriſtiſche Konſtruktion aus den Einzelwillen und ihrem Vertrag. Geſellſchaftsvertrag, Souveränität des Volkes, Einſchränkung des poſitiven Rechtes durch das Naturrecht traten in das öffentliche Recht ein. Dieſe poſitiv-rechtliche Fortent- wicklung des Naturrechts verſtärkte ſeine revolutionäre Kraft für

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/465>, abgerufen am 24.11.2024.