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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Begründ. d. Institution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus.
nur aus Zeichen erkannt werden kann, so legt Dante die Ge-
schichte als ein System von Zeichen des Willens Gottes aus 1).

Wie das theokratische System dem Staate seine Stellung in
der äußeren Organisation der Gesellschaft zumaß, ebenso gewährte
es einen Anhalt, die Natur des Staates zu bestimmen. Von dem
mystischen Leibe der Kirche wurde die Vorstellung des Organis-
mus
in einem neuen, über Aristoteles hinausgehenden Sinne auf
den Staat übertragen. Die wol älteste uns noch zugängliche
Durchführung der Vergleichung zwischen den Gliedern des Körpers
und den Theilen des Staates unter der Voraussetzung, daß die
Grundzüge der organischen Struktur wirklich im Staate wieder-
kehren, war in einer dem Plutarch untergeschobenen Institutio
Trajani
enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des
Johannes von Salisbury noch theilweise wiederzuerkennen ver-
mögen 2). Diese Harmonie des Weltganzen, nach welcher die
Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum sich
in der seiner Theile, der Individuen, widerspiegelt, bildet den
Hintergrund des mittelalterlichen organischen Staatsbegriffs. Und
schon die Schriftsteller jener Zeit verwenden geistvoll Beziehungen,
die wir am organischen Körper gewahren, zur Aufklärung des
politischen Organismus.

Jenseit dieser ganzen theokratischen Auffassung von Geschichte
und gesellschaftlicher Ordnung trat im Fortschreiten des Mittelalters
immer mächtiger eine ganz entgegengesetzte hervor, welche aus den
freien Stadtgemeinden des Alterthums stammte: die Ableitung
der politischen Willenseinheit und des Rechtes der Herr-
schaft aus den Einzelwillen der zu einer Organisation ver-
bundenen Personen. Diese Theorie erklärte die Entstehung von

1) Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches.
2) Vgl. besonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut
Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani-
matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine
rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor-
mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra-
dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent
. Hier gewahrt man
direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.

Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus.
nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge-
ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus 1).

Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zumaß, ebenſo gewährte
es einen Anhalt, die Natur des Staates zu beſtimmen. Von dem
myſtiſchen Leibe der Kirche wurde die Vorſtellung des Organis-
mus
in einem neuen, über Ariſtoteles hinausgehenden Sinne auf
den Staat übertragen. Die wol älteſte uns noch zugängliche
Durchführung der Vergleichung zwiſchen den Gliedern des Körpers
und den Theilen des Staates unter der Vorausſetzung, daß die
Grundzüge der organiſchen Struktur wirklich im Staate wieder-
kehren, war in einer dem Plutarch untergeſchobenen Institutio
Trajani
enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des
Johannes von Salisbury noch theilweiſe wiederzuerkennen ver-
mögen 2). Dieſe Harmonie des Weltganzen, nach welcher die
Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum ſich
in der ſeiner Theile, der Individuen, widerſpiegelt, bildet den
Hintergrund des mittelalterlichen organiſchen Staatsbegriffs. Und
ſchon die Schriftſteller jener Zeit verwenden geiſtvoll Beziehungen,
die wir am organiſchen Körper gewahren, zur Aufklärung des
politiſchen Organismus.

Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte
und geſellſchaftlicher Ordnung trat im Fortſchreiten des Mittelalters
immer mächtiger eine ganz entgegengeſetzte hervor, welche aus den
freien Stadtgemeinden des Alterthums ſtammte: die Ableitung
der politiſchen Willenseinheit und des Rechtes der Herr-
ſchaft aus den Einzelwillen der zu einer Organiſation ver-
bundenen Perſonen. Dieſe Theorie erklärte die Entſtehung von

1) Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches.
2) Vgl. beſonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut
Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani-
matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine
rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor-
mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra-
dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent
. Hier gewahrt man
direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.
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[441/0464] Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus. nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge- ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus 1). Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zumaß, ebenſo gewährte es einen Anhalt, die Natur des Staates zu beſtimmen. Von dem myſtiſchen Leibe der Kirche wurde die Vorſtellung des Organis- mus in einem neuen, über Ariſtoteles hinausgehenden Sinne auf den Staat übertragen. Die wol älteſte uns noch zugängliche Durchführung der Vergleichung zwiſchen den Gliedern des Körpers und den Theilen des Staates unter der Vorausſetzung, daß die Grundzüge der organiſchen Struktur wirklich im Staate wieder- kehren, war in einer dem Plutarch untergeſchobenen Institutio Trajani enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des Johannes von Salisbury noch theilweiſe wiederzuerkennen ver- mögen 2). Dieſe Harmonie des Weltganzen, nach welcher die Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum ſich in der ſeiner Theile, der Individuen, widerſpiegelt, bildet den Hintergrund des mittelalterlichen organiſchen Staatsbegriffs. Und ſchon die Schriftſteller jener Zeit verwenden geiſtvoll Beziehungen, die wir am organiſchen Körper gewahren, zur Aufklärung des politiſchen Organismus. Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte und geſellſchaftlicher Ordnung trat im Fortſchreiten des Mittelalters immer mächtiger eine ganz entgegengeſetzte hervor, welche aus den freien Stadtgemeinden des Alterthums ſtammte: die Ableitung der politiſchen Willenseinheit und des Rechtes der Herr- ſchaft aus den Einzelwillen der zu einer Organiſation ver- bundenen Perſonen. Dieſe Theorie erklärte die Entſtehung von 1) Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches. 2) Vgl. beſonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani- matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor- mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra- dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/464>, abgerufen am 24.11.2024.