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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Drei verschiedene Werthungen des weltlichen Staates.
gleiche Souveränität zu. Diese Werthschätzung des imperium
wird von den literarischen Vertretern der kaiserlichen Ansprüche seit
Heinrich IV. zu begründen versucht1). Sie wird tiefsinnig von
Dante in seiner Schrift über die Monarchie entwickelt, aus Sätzen
des Aristoteles und Thomas, aber wie in gewaltigerer Sprache, so
auch in größerem Stil des Denkens, als Thomas ihn zeigt. Der
Zweck jedes Theiles der Schöpfung liegt in der ihm eigenthümlichen
Thätigkeit. Nun vermag nicht ein einzelner Mensch das im Ver-
nunftvermögen Enthaltene zu verwirklichen, sondern das Menschen-
geschlecht allein kann das theoretische und in zweiter Linie das
praktische Vernunftvermögen ganz auswirken. Die Bedingung für
die Erreichung dieses Zieles liegt in dem allgemeinen Frieden,
und diesen sichert die Monarchie; sie hält die Gerechtigkeit aufrecht
und richtet das Wirken der Einzelnen auf das Eine Ziel2). So
tritt die Monarchie zu der theokratischen Ordnung der Gesellschaft
in folgendes Verhältniß. Unter allem, was existirt, steht der
Mensch allein in der Mitte zwischen der vergänglichen und einer
unvergänglichen Welt. Daher hat er, sofern er vergänglich ist,
ein anderes Endziel, als sofern er unvergänglich ist. Die uner-
schöpflich tiefe Providenz hat ihm in der Seligkeit dieses Lebens,
welche in dem Auswirken der ihm eigenen Tugend besteht, das
eine und in der Seligkeit des ewigen Lebens, die in dem Genuß
der Anschauung Gottes besteht, das andere Ziel gegeben. Wir
gelangen zum ersteren Ziele auf dem Wege philosophischer Einsicht
vermittelst unserer intellektuellen und moralischen Tugenden, und
wir erreichen den anderen Endzweck auf dem Wege der Offen-
barung vermittelst der theologischen Tugenden. Die Leitung des
Strebens nach dem ersteren Ziele steht dem Kaiser zu und die
nach dem anderen dem Papste. Das Kaiserthum lenkt vermittelst
der philosophischen Einsicht das Menschengeschlecht zu seiner zeit-
lichen Glückseligkeit, der Papst führt es vermittelst der Offen-
barungswahrheiten zum ewigen Leben3). -- Diese selbständige Werth-

1) Stellen bei Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht III, 534.
2) Dante de monarchia I c. 1 ff.
3) Ebdf. im dritten Buche.

Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates.
gleiche Souveränität zu. Dieſe Werthſchätzung des imperium
wird von den literariſchen Vertretern der kaiſerlichen Anſprüche ſeit
Heinrich IV. zu begründen verſucht1). Sie wird tiefſinnig von
Dante in ſeiner Schrift über die Monarchie entwickelt, aus Sätzen
des Ariſtoteles und Thomas, aber wie in gewaltigerer Sprache, ſo
auch in größerem Stil des Denkens, als Thomas ihn zeigt. Der
Zweck jedes Theiles der Schöpfung liegt in der ihm eigenthümlichen
Thätigkeit. Nun vermag nicht ein einzelner Menſch das im Ver-
nunftvermögen Enthaltene zu verwirklichen, ſondern das Menſchen-
geſchlecht allein kann das theoretiſche und in zweiter Linie das
praktiſche Vernunftvermögen ganz auswirken. Die Bedingung für
die Erreichung dieſes Zieles liegt in dem allgemeinen Frieden,
und dieſen ſichert die Monarchie; ſie hält die Gerechtigkeit aufrecht
und richtet das Wirken der Einzelnen auf das Eine Ziel2). So
tritt die Monarchie zu der theokratiſchen Ordnung der Geſellſchaft
in folgendes Verhältniß. Unter allem, was exiſtirt, ſteht der
Menſch allein in der Mitte zwiſchen der vergänglichen und einer
unvergänglichen Welt. Daher hat er, ſofern er vergänglich iſt,
ein anderes Endziel, als ſofern er unvergänglich iſt. Die uner-
ſchöpflich tiefe Providenz hat ihm in der Seligkeit dieſes Lebens,
welche in dem Auswirken der ihm eigenen Tugend beſteht, das
eine und in der Seligkeit des ewigen Lebens, die in dem Genuß
der Anſchauung Gottes beſteht, das andere Ziel gegeben. Wir
gelangen zum erſteren Ziele auf dem Wege philoſophiſcher Einſicht
vermittelſt unſerer intellektuellen und moraliſchen Tugenden, und
wir erreichen den anderen Endzweck auf dem Wege der Offen-
barung vermittelſt der theologiſchen Tugenden. Die Leitung des
Strebens nach dem erſteren Ziele ſteht dem Kaiſer zu und die
nach dem anderen dem Papſte. Das Kaiſerthum lenkt vermittelſt
der philoſophiſchen Einſicht das Menſchengeſchlecht zu ſeiner zeit-
lichen Glückſeligkeit, der Papſt führt es vermittelſt der Offen-
barungswahrheiten zum ewigen Leben3). — Dieſe ſelbſtändige Werth-

1) Stellen bei Gierke, Deutſches Genoſſenſchaftsrecht III, 534.
2) Dante de monarchia I c. 1 ff.
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[439/0462] Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates. gleiche Souveränität zu. Dieſe Werthſchätzung des imperium wird von den literariſchen Vertretern der kaiſerlichen Anſprüche ſeit Heinrich IV. zu begründen verſucht 1). Sie wird tiefſinnig von Dante in ſeiner Schrift über die Monarchie entwickelt, aus Sätzen des Ariſtoteles und Thomas, aber wie in gewaltigerer Sprache, ſo auch in größerem Stil des Denkens, als Thomas ihn zeigt. Der Zweck jedes Theiles der Schöpfung liegt in der ihm eigenthümlichen Thätigkeit. Nun vermag nicht ein einzelner Menſch das im Ver- nunftvermögen Enthaltene zu verwirklichen, ſondern das Menſchen- geſchlecht allein kann das theoretiſche und in zweiter Linie das praktiſche Vernunftvermögen ganz auswirken. Die Bedingung für die Erreichung dieſes Zieles liegt in dem allgemeinen Frieden, und dieſen ſichert die Monarchie; ſie hält die Gerechtigkeit aufrecht und richtet das Wirken der Einzelnen auf das Eine Ziel 2). So tritt die Monarchie zu der theokratiſchen Ordnung der Geſellſchaft in folgendes Verhältniß. Unter allem, was exiſtirt, ſteht der Menſch allein in der Mitte zwiſchen der vergänglichen und einer unvergänglichen Welt. Daher hat er, ſofern er vergänglich iſt, ein anderes Endziel, als ſofern er unvergänglich iſt. Die uner- ſchöpflich tiefe Providenz hat ihm in der Seligkeit dieſes Lebens, welche in dem Auswirken der ihm eigenen Tugend beſteht, das eine und in der Seligkeit des ewigen Lebens, die in dem Genuß der Anſchauung Gottes beſteht, das andere Ziel gegeben. Wir gelangen zum erſteren Ziele auf dem Wege philoſophiſcher Einſicht vermittelſt unſerer intellektuellen und moraliſchen Tugenden, und wir erreichen den anderen Endzweck auf dem Wege der Offen- barung vermittelſt der theologiſchen Tugenden. Die Leitung des Strebens nach dem erſteren Ziele ſteht dem Kaiſer zu und die nach dem anderen dem Papſte. Das Kaiſerthum lenkt vermittelſt der philoſophiſchen Einſicht das Menſchengeſchlecht zu ſeiner zeit- lichen Glückſeligkeit, der Papſt führt es vermittelſt der Offen- barungswahrheiten zum ewigen Leben 3). — Dieſe ſelbſtändige Werth- 1) Stellen bei Gierke, Deutſches Genoſſenſchaftsrecht III, 534. 2) Dante de monarchia I c. 1 ff. 3) Ebdf. im dritten Buche.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/462>, abgerufen am 24.11.2024.