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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Drei verschiedene Werthungen des weltlichen Staates.

Augustinus betrachtete allein den "Staat, dessen König
Christus ist," d. h. die Kirche, als Stiftung Gottes und als Aus-
druck der in ihm gegründeten sittlichen Weltordnung, dagegen leitete
er Eigenthum und Herrschaftsverhältnisse aus dem Sündenfall ab.
Daher war ihm der weltliche Staat, wenn er nicht in den Dienst
des himmlischen tritt, eine Schöpfung der Selbstsucht: civitas dia-
boli
1). So begründete er die hierarchische Auffassung des Staats-
lebens, für welche der Staat ein an sich werthloses Instrument
im Dienste der Kirche zum Schutze des wahren Glaubens und
zur Bekämpfung der Ungläubigen gewesen ist. Gregor VII.
und Vertreter seiner päpstlichen Politik haben denselben Stand-
punkt festgehalten2), und in der extremen päpstlichen Partei hatte
er während des ganzen Mittelalters seine Vertreter. Aber
bei den hervorragendsten politischen Metaphysikern des Mittel-
alters besteht im Zusammenhang mit dem Studium des Aristoteles
eine andere Werthung des staatlichen Lebens. Thomas von
Aquino und Dante bezeichnen den Höhepunkt dieser politischen Me-
taphysik; sie sind beide von dem Standpunkt des Augustinus weit
entfernt; so verschieden sie sich auch selber in dieser Frage ver-
halten, beide weisen die Ableitung des staatlichen Lebens aus
dem Sündenfall ab und finden dasselbe vielmehr in der sittlichen
Natur des Menschen begründet.

Und zwar ist Thomas von Aquino der Hauptver-
treter der zweiten Richtung in Bezug auf die Werthung des
Staatslebens. Er bestimmte dessen Aufgabe dahin, daß es
das System von Bedingungen verwirkliche, an welche der

1) Augustinus de civ. Dei XIV c. 28, XV c. 1--5, XVI c. 3. 4. XIX
c. 15--23
. -- Die Vergleichung des Staates mit einem wilden Thiere, wie
sie Plato und Hobbes gebrauchen, wird auch von Augustinus, anknüpfend
an die Apokalypse angewandt, de civ. Dei 20 c. 9.
2) Gregor VII. in Jaffes bibliotheca II (1865) lib. VIII ep. 21
a. 1081 p. 457: quis nesciat, reges et duces ab iis habuisse principium,
qui, deum ignorantes, superbia rapinis perfidia homicidiis, postremo
universis paene sceleribus, mundi principe diabolo videlicet agitante, super
pares, scilicet homines, dominari caeca cupidine et intolerabili prae-
sumptione affectaverunt?
Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates.

Auguſtinus betrachtete allein den „Staat, deſſen König
Chriſtus iſt,“ d. h. die Kirche, als Stiftung Gottes und als Aus-
druck der in ihm gegründeten ſittlichen Weltordnung, dagegen leitete
er Eigenthum und Herrſchaftsverhältniſſe aus dem Sündenfall ab.
Daher war ihm der weltliche Staat, wenn er nicht in den Dienſt
des himmliſchen tritt, eine Schöpfung der Selbſtſucht: civitas dia-
boli
1). So begründete er die hierarchiſche Auffaſſung des Staats-
lebens, für welche der Staat ein an ſich werthloſes Inſtrument
im Dienſte der Kirche zum Schutze des wahren Glaubens und
zur Bekämpfung der Ungläubigen geweſen iſt. Gregor VII.
und Vertreter ſeiner päpſtlichen Politik haben denſelben Stand-
punkt feſtgehalten2), und in der extremen päpſtlichen Partei hatte
er während des ganzen Mittelalters ſeine Vertreter. Aber
bei den hervorragendſten politiſchen Metaphyſikern des Mittel-
alters beſteht im Zuſammenhang mit dem Studium des Ariſtoteles
eine andere Werthung des ſtaatlichen Lebens. Thomas von
Aquino und Dante bezeichnen den Höhepunkt dieſer politiſchen Me-
taphyſik; ſie ſind beide von dem Standpunkt des Auguſtinus weit
entfernt; ſo verſchieden ſie ſich auch ſelber in dieſer Frage ver-
halten, beide weiſen die Ableitung des ſtaatlichen Lebens aus
dem Sündenfall ab und finden daſſelbe vielmehr in der ſittlichen
Natur des Menſchen begründet.

Und zwar iſt Thomas von Aquino der Hauptver-
treter der zweiten Richtung in Bezug auf die Werthung des
Staatslebens. Er beſtimmte deſſen Aufgabe dahin, daß es
das Syſtem von Bedingungen verwirkliche, an welche der

1) Auguſtinus de civ. Dei XIV c. 28, XV c. 1—5, XVI c. 3. 4. XIX
c. 15—23
. — Die Vergleichung des Staates mit einem wilden Thiere, wie
ſie Plato und Hobbes gebrauchen, wird auch von Auguſtinus, anknüpfend
an die Apokalypſe angewandt, de civ. Dei 20 c. 9.
2) Gregor VII. in Jaffés bibliotheca II (1865) lib. VIII ep. 21
a. 1081 p. 457: quis nesciat, reges et duces ab iis habuisse principium,
qui, deum ignorantes, superbia rapinis perfidia homicidiis, postremo
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sumptione affectaverunt?
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[437/0460] Drei verſchiedene Werthungen des weltlichen Staates. Auguſtinus betrachtete allein den „Staat, deſſen König Chriſtus iſt,“ d. h. die Kirche, als Stiftung Gottes und als Aus- druck der in ihm gegründeten ſittlichen Weltordnung, dagegen leitete er Eigenthum und Herrſchaftsverhältniſſe aus dem Sündenfall ab. Daher war ihm der weltliche Staat, wenn er nicht in den Dienſt des himmliſchen tritt, eine Schöpfung der Selbſtſucht: civitas dia- boli 1). So begründete er die hierarchiſche Auffaſſung des Staats- lebens, für welche der Staat ein an ſich werthloſes Inſtrument im Dienſte der Kirche zum Schutze des wahren Glaubens und zur Bekämpfung der Ungläubigen geweſen iſt. Gregor VII. und Vertreter ſeiner päpſtlichen Politik haben denſelben Stand- punkt feſtgehalten 2), und in der extremen päpſtlichen Partei hatte er während des ganzen Mittelalters ſeine Vertreter. Aber bei den hervorragendſten politiſchen Metaphyſikern des Mittel- alters beſteht im Zuſammenhang mit dem Studium des Ariſtoteles eine andere Werthung des ſtaatlichen Lebens. Thomas von Aquino und Dante bezeichnen den Höhepunkt dieſer politiſchen Me- taphyſik; ſie ſind beide von dem Standpunkt des Auguſtinus weit entfernt; ſo verſchieden ſie ſich auch ſelber in dieſer Frage ver- halten, beide weiſen die Ableitung des ſtaatlichen Lebens aus dem Sündenfall ab und finden daſſelbe vielmehr in der ſittlichen Natur des Menſchen begründet. Und zwar iſt Thomas von Aquino der Hauptver- treter der zweiten Richtung in Bezug auf die Werthung des Staatslebens. Er beſtimmte deſſen Aufgabe dahin, daß es das Syſtem von Bedingungen verwirkliche, an welche der 1) Auguſtinus de civ. Dei XIV c. 28, XV c. 1—5, XVI c. 3. 4. XIX c. 15—23. — Die Vergleichung des Staates mit einem wilden Thiere, wie ſie Plato und Hobbes gebrauchen, wird auch von Auguſtinus, anknüpfend an die Apokalypſe angewandt, de civ. Dei 20 c. 9. 2) Gregor VII. in Jaffés bibliotheca II (1865) lib. VIII ep. 21 a. 1081 p. 457: quis nesciat, reges et duces ab iis habuisse principium, qui, deum ignorantes, superbia rapinis perfidia homicidiis, postremo universis paene sceleribus, mundi principe diabolo videlicet agitante, super pares, scilicet homines, dominari caeca cupidine et intolerabili prae- sumptione affectaverunt?

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/460>, abgerufen am 23.11.2024.