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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
allein wird der Friede unter den Menschen verwirklicht und die
Aehnlichkeit mit dem Vollkommensten, der Herrschaft Gottes über
die Welt, hergestellt. So allein wird die äußere Bedingung für
die Herstellung der Gerechtigkeit erfüllt, da ein System streitender
Staaten keine höchste Instanz zur Entscheidung nach dem Rechte
besäße. So allein wird endlich die innere Voraussetzung, deren
die Gerechtigkeit bedarf, geschaffen, da der Kaiser allein, dessen
Jurisdiktion nur an dem Ocean seine Schranken hat, keinen
Wunsch mehr haben kann und so keine Begierde in ihm die Ge-
rechtigkeit hemmt. Mit allem Aufwand des syllogistischen Hand-
werks jener Tage erschließt der große Dichter, daß nur das
Kaiserthum als Weltstaat einen befriedigenden Zustand des
Menschengeschlechtes herbeiführen könne1). Wie alle Deduktionen
der mittelalterlichen Metaphysik der Gesellschaft, konnte auch diese
von entgegenstehenden Interessen leicht bekämpft und durch andere
ersetzt werden. Die Vertheidiger des Rechtes der Einzelmonarchien
durften den Willen Gottes aus der Verschiedenheit der Lebens-
bedingungen, der Sitten wie des Rechtes der Einzelvölker im Sinne
des Nationalitätsgedankens deuten2).

Die nähere Einordnung des Staates in den dargelegten theo-
kratischen Zusammenhang ist eine verschiedene gewesen, je nach der
wechselnden Werthung des Imperiums, des Staatslebens über-
haupt. Drei verschiedene Arten, den Werth des weltlichen
Staates
zu bestimmen, können hier unterschieden werden.


1) Dante widmet das ganze erste Buch seiner Schrift de monarchia
der Entwicklung dieser Sätze. -- Auch hier findet man bei Occam eine
scharfsinnige Abwägung von Gründen und Gegengründen, welche die logische
Folgerichtigkeit der metaphysischen Konstruktion nicht mehr anerkennt,
Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1--9.
2) Auch Thomas von Aquino hebt in seinem Kommentar zur aristote-
lischen Politik lib. VII lect. 3 hervor, daß ein mäßiger Umfang des Staates
für die Ordnung in ihm erforderlich sei; vgl. Johannes Parisiensis de po-
testate regia et papali c. 3
(in Goldast monarchia II p. 111) und die am
meisten allseitige Behandlung des Problems durch Occam dialogus p. III
tract. 2 l. 1 c. 1
ff.; Occam verwirft jede metaphysische Auflösung des
Problems und gestattet nur eine nach der historischen Lage c. 5.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
allein wird der Friede unter den Menſchen verwirklicht und die
Aehnlichkeit mit dem Vollkommenſten, der Herrſchaft Gottes über
die Welt, hergeſtellt. So allein wird die äußere Bedingung für
die Herſtellung der Gerechtigkeit erfüllt, da ein Syſtem ſtreitender
Staaten keine höchſte Inſtanz zur Entſcheidung nach dem Rechte
beſäße. So allein wird endlich die innere Vorausſetzung, deren
die Gerechtigkeit bedarf, geſchaffen, da der Kaiſer allein, deſſen
Jurisdiktion nur an dem Ocean ſeine Schranken hat, keinen
Wunſch mehr haben kann und ſo keine Begierde in ihm die Ge-
rechtigkeit hemmt. Mit allem Aufwand des ſyllogiſtiſchen Hand-
werks jener Tage erſchließt der große Dichter, daß nur das
Kaiſerthum als Weltſtaat einen befriedigenden Zuſtand des
Menſchengeſchlechtes herbeiführen könne1). Wie alle Deduktionen
der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft, konnte auch dieſe
von entgegenſtehenden Intereſſen leicht bekämpft und durch andere
erſetzt werden. Die Vertheidiger des Rechtes der Einzelmonarchien
durften den Willen Gottes aus der Verſchiedenheit der Lebens-
bedingungen, der Sitten wie des Rechtes der Einzelvölker im Sinne
des Nationalitätsgedankens deuten2).

Die nähere Einordnung des Staates in den dargelegten theo-
kratiſchen Zuſammenhang iſt eine verſchiedene geweſen, je nach der
wechſelnden Werthung des Imperiums, des Staatslebens über-
haupt. Drei verſchiedene Arten, den Werth des weltlichen
Staates
zu beſtimmen, können hier unterſchieden werden.


1) Dante widmet das ganze erſte Buch ſeiner Schrift de monarchia
der Entwicklung dieſer Sätze. — Auch hier findet man bei Occam eine
ſcharfſinnige Abwägung von Gründen und Gegengründen, welche die logiſche
Folgerichtigkeit der metaphyſiſchen Konſtruktion nicht mehr anerkennt,
Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1—9.
2) Auch Thomas von Aquino hebt in ſeinem Kommentar zur ariſtote-
liſchen Politik lib. VII lect. 3 hervor, daß ein mäßiger Umfang des Staates
für die Ordnung in ihm erforderlich ſei; vgl. Johannes Pariſienſis de po-
testate regia et papali c. 3
(in Goldaſt monarchia II p. 111) und die am
meiſten allſeitige Behandlung des Problems durch Occam dialogus p. III
tract. 2 l. 1 c. 1
ff.; Occam verwirft jede metaphyſiſche Auflöſung des
Problems und geſtattet nur eine nach der hiſtoriſchen Lage c. 5.
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[436/0459] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. allein wird der Friede unter den Menſchen verwirklicht und die Aehnlichkeit mit dem Vollkommenſten, der Herrſchaft Gottes über die Welt, hergeſtellt. So allein wird die äußere Bedingung für die Herſtellung der Gerechtigkeit erfüllt, da ein Syſtem ſtreitender Staaten keine höchſte Inſtanz zur Entſcheidung nach dem Rechte beſäße. So allein wird endlich die innere Vorausſetzung, deren die Gerechtigkeit bedarf, geſchaffen, da der Kaiſer allein, deſſen Jurisdiktion nur an dem Ocean ſeine Schranken hat, keinen Wunſch mehr haben kann und ſo keine Begierde in ihm die Ge- rechtigkeit hemmt. Mit allem Aufwand des ſyllogiſtiſchen Hand- werks jener Tage erſchließt der große Dichter, daß nur das Kaiſerthum als Weltſtaat einen befriedigenden Zuſtand des Menſchengeſchlechtes herbeiführen könne 1). Wie alle Deduktionen der mittelalterlichen Metaphyſik der Geſellſchaft, konnte auch dieſe von entgegenſtehenden Intereſſen leicht bekämpft und durch andere erſetzt werden. Die Vertheidiger des Rechtes der Einzelmonarchien durften den Willen Gottes aus der Verſchiedenheit der Lebens- bedingungen, der Sitten wie des Rechtes der Einzelvölker im Sinne des Nationalitätsgedankens deuten 2). Die nähere Einordnung des Staates in den dargelegten theo- kratiſchen Zuſammenhang iſt eine verſchiedene geweſen, je nach der wechſelnden Werthung des Imperiums, des Staatslebens über- haupt. Drei verſchiedene Arten, den Werth des weltlichen Staates zu beſtimmen, können hier unterſchieden werden. 1) Dante widmet das ganze erſte Buch ſeiner Schrift de monarchia der Entwicklung dieſer Sätze. — Auch hier findet man bei Occam eine ſcharfſinnige Abwägung von Gründen und Gegengründen, welche die logiſche Folgerichtigkeit der metaphyſiſchen Konſtruktion nicht mehr anerkennt, Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1—9. 2) Auch Thomas von Aquino hebt in ſeinem Kommentar zur ariſtote- liſchen Politik lib. VII lect. 3 hervor, daß ein mäßiger Umfang des Staates für die Ordnung in ihm erforderlich ſei; vgl. Johannes Pariſienſis de po- testate regia et papali c. 3 (in Goldaſt monarchia II p. 111) und die am meiſten allſeitige Behandlung des Problems durch Occam dialogus p. III tract. 2 l. 1 c. 1 ff.; Occam verwirft jede metaphyſiſche Auflöſung des Problems und geſtattet nur eine nach der hiſtoriſchen Lage c. 5.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/459>, abgerufen am 23.11.2024.