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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
teressen, welchen die politischen Ordnungen leben, nur Mittel sind,
so sind alle politischen Ordnungen ihr unterthan.

Dies ist der Grundgedanke der theokratischen Gesellschafts-
ordnung des Mittelalters. -- Die Theologen, vor allen Au-
gustinus, haben diesen Grundgedanken theoretisch dargestellt. Indem
sie sich an die durch die Stoiker geschaffene Verknüpfung des
Naturrechts mit einer teleologischen Metaphysik anschlossen1), fiel
ihnen weiter mit dem göttlichen Recht, dessen Träger die Kirche
ist, das natürliche zusammen, und so stellten sie das kirchliche
Recht als ein aus Gottes ewigem Heilsplan erfließendes, darum
an sich und unveränderlich gültiges, den menschlichen Satzungen
gegenüber2). Sie betrachteten die gegen die kirchlichen Gesetze ver-
stoßenden Anordnungen und Gesetze des Staats als unverbindlich3).
Sie ordneten im Zusammenhang mit der ganzen eben dargelegten
christlichen Teleologie den Staat dem mystischen Körper Christi oder
der Kirche als Mittel, als dienendes Instrument unter4). -- Aber
während die Theologen diese Theorie entwickelten, hat die monar-
chische Staatsgewalt des römischen Imperiums an den Grund-
lagen des überkommenen römischen Rechtes festgehalten; nur
allmälig drangen die christlich-kirchlichen Ideen in das Rechts-
leben ein, und erst die Kanonisten haben sie in den wissen-

1) Vgl. S. 309.
2) Augustinus tract. VI, 25 ad c. 1 Joann. v. 32: divinum jus in
scripturis divinis habemus, humanum jus in legibus regum; ep. 93 c. 12
.
Vgl. Isidor Etymol. V c. 2: omnes autem leges aut divinae sunt aut
humanae. divinae natura, humanae moribus constant; ideoque hae
discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent
. -- Für den Begriff der
lex naturalis, welche als Gesetzgebung Gottes das sittliche wie das rechtliche
Gebiet umfaßt, ist zwischen Augustinus und Thomas von Aquino besonders
wichtig Abälard in seinem dialogus inter philosophum, Judaeum et
Christianum
.
3) Augustinus ep. 105 c. 2; sermo 62 c. 5. -- Ueber den Begriff
des Naturrechts bei Thomas von Aquino und seine Unterscheidung von
lex aeterna und lex naturalis vgl. S. 424.
4) Innerhalb der Darlegung des Augustinus in Buch XIX de civ. Dei
besonders c. 14: das Ziel der terrena civitas ist die pax terrena, das der
coelestis civitas dagegen ist die pax aeterna, und der Zweck des Menschen
liegt in der letzteren.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
tereſſen, welchen die politiſchen Ordnungen leben, nur Mittel ſind,
ſo ſind alle politiſchen Ordnungen ihr unterthan.

Dies iſt der Grundgedanke der theokratiſchen Geſellſchafts-
ordnung des Mittelalters. — Die Theologen, vor allen Au-
guſtinus, haben dieſen Grundgedanken theoretiſch dargeſtellt. Indem
ſie ſich an die durch die Stoiker geſchaffene Verknüpfung des
Naturrechts mit einer teleologiſchen Metaphyſik anſchloſſen1), fiel
ihnen weiter mit dem göttlichen Recht, deſſen Träger die Kirche
iſt, das natürliche zuſammen, und ſo ſtellten ſie das kirchliche
Recht als ein aus Gottes ewigem Heilsplan erfließendes, darum
an ſich und unveränderlich gültiges, den menſchlichen Satzungen
gegenüber2). Sie betrachteten die gegen die kirchlichen Geſetze ver-
ſtoßenden Anordnungen und Geſetze des Staats als unverbindlich3).
Sie ordneten im Zuſammenhang mit der ganzen eben dargelegten
chriſtlichen Teleologie den Staat dem myſtiſchen Körper Chriſti oder
der Kirche als Mittel, als dienendes Inſtrument unter4). — Aber
während die Theologen dieſe Theorie entwickelten, hat die monar-
chiſche Staatsgewalt des römiſchen Imperiums an den Grund-
lagen des überkommenen römiſchen Rechtes feſtgehalten; nur
allmälig drangen die chriſtlich-kirchlichen Ideen in das Rechts-
leben ein, und erſt die Kanoniſten haben ſie in den wiſſen-

1) Vgl. S. 309.
2) Auguſtinus tract. VI, 25 ad c. 1 Joann. v. 32: divinum jus in
scripturis divinis habemus, humanum jus in legibus regum; ep. 93 c. 12
.
Vgl. Iſidor Etymol. V c. 2: omnes autem leges aut divinae sunt aut
humanae. divinae natura, humanae moribus constant; ideoque hae
discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent
. — Für den Begriff der
lex naturalis, welche als Geſetzgebung Gottes das ſittliche wie das rechtliche
Gebiet umfaßt, iſt zwiſchen Auguſtinus und Thomas von Aquino beſonders
wichtig Abälard in ſeinem dialogus inter philosophum, Judaeum et
Christianum
.
3) Auguſtinus ep. 105 c. 2; sermo 62 c. 5. — Ueber den Begriff
des Naturrechts bei Thomas von Aquino und ſeine Unterſcheidung von
lex aeterna und lex naturalis vgl. S. 424.
4) Innerhalb der Darlegung des Auguſtinus in Buch XIX de civ. Dei
beſonders c. 14: das Ziel der terrena civitas iſt die pax terrena, das der
coelestis civitas dagegen iſt die pax aeterna, und der Zweck des Menſchen
liegt in der letzteren.
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[432/0455] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. tereſſen, welchen die politiſchen Ordnungen leben, nur Mittel ſind, ſo ſind alle politiſchen Ordnungen ihr unterthan. Dies iſt der Grundgedanke der theokratiſchen Geſellſchafts- ordnung des Mittelalters. — Die Theologen, vor allen Au- guſtinus, haben dieſen Grundgedanken theoretiſch dargeſtellt. Indem ſie ſich an die durch die Stoiker geſchaffene Verknüpfung des Naturrechts mit einer teleologiſchen Metaphyſik anſchloſſen 1), fiel ihnen weiter mit dem göttlichen Recht, deſſen Träger die Kirche iſt, das natürliche zuſammen, und ſo ſtellten ſie das kirchliche Recht als ein aus Gottes ewigem Heilsplan erfließendes, darum an ſich und unveränderlich gültiges, den menſchlichen Satzungen gegenüber 2). Sie betrachteten die gegen die kirchlichen Geſetze ver- ſtoßenden Anordnungen und Geſetze des Staats als unverbindlich 3). Sie ordneten im Zuſammenhang mit der ganzen eben dargelegten chriſtlichen Teleologie den Staat dem myſtiſchen Körper Chriſti oder der Kirche als Mittel, als dienendes Inſtrument unter 4). — Aber während die Theologen dieſe Theorie entwickelten, hat die monar- chiſche Staatsgewalt des römiſchen Imperiums an den Grund- lagen des überkommenen römiſchen Rechtes feſtgehalten; nur allmälig drangen die chriſtlich-kirchlichen Ideen in das Rechts- leben ein, und erſt die Kanoniſten haben ſie in den wiſſen- 1) Vgl. S. 309. 2) Auguſtinus tract. VI, 25 ad c. 1 Joann. v. 32: divinum jus in scripturis divinis habemus, humanum jus in legibus regum; ep. 93 c. 12. Vgl. Iſidor Etymol. V c. 2: omnes autem leges aut divinae sunt aut humanae. divinae natura, humanae moribus constant; ideoque hae discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent. — Für den Begriff der lex naturalis, welche als Geſetzgebung Gottes das ſittliche wie das rechtliche Gebiet umfaßt, iſt zwiſchen Auguſtinus und Thomas von Aquino beſonders wichtig Abälard in ſeinem dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum. 3) Auguſtinus ep. 105 c. 2; sermo 62 c. 5. — Ueber den Begriff des Naturrechts bei Thomas von Aquino und ſeine Unterſcheidung von lex aeterna und lex naturalis vgl. S. 424. 4) Innerhalb der Darlegung des Auguſtinus in Buch XIX de civ. Dei beſonders c. 14: das Ziel der terrena civitas iſt die pax terrena, das der coelestis civitas dagegen iſt die pax aeterna, und der Zweck des Menſchen liegt in der letzteren.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/455>, abgerufen am 23.11.2024.