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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
daß Gott von der Urheberschaft des Bösen freigesprochen werden
könnte; sie vermag nicht den Widerspruch zwischen dem göttlichen
Vorherwissen und der Freiheit des Menschen aufzulösen.

Die veränderte Anschauung des Reiches der Geister spiegelt
sich in der von den christlich gewordenen romanisch-germanischen
Völkern geschaffenen Dichtung des Mittelalters, in den ritterlichen
Epen so gut als in Dantes göttlicher Komödie. Nicht mehr in
sich geschlossene Typen allein, welche gegeneinander in Wirksamkeit
treten, erscheinen in dieser Dichtung, sondern Geschichte des Seelen-
lebens, insbesondere des Willens, wie denn Augustinus sagt:
immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt, alsdann Auf-
fassung dieser Geschichte des Willens nach ihren Beziehungen zu
dem providentiellen Willen Gottes; in dieser Auffassung ist aber
ein ungelöster Zwiespalt zwischen der inneren freien Entwicklung
und dem dunklen Hintergrund von Kräften aller Art, die ihn
beeinflussen.

Das Reich der Einzelgeister verwirklicht nun einen
metaphysischen Zweckzusammenhang, welcher in der
Offenbarung ausgesprochen ist. Hierin stimmt das ganze
europäische Mittelalter überein, und nur die Frage, wie viel von
diesem Inhalt aller Geschichte in Begriffen erkannt werden kann,
wird ungleich entschieden.

Die Metaphysik des Verlaufs der Geschichte und der Or-
ganisation der Gesellschaft hat während des Mittelalters ihre
letzten Gründe in dem Bewußtsein, daß der ideale Gehalt
dieses Verlaufs und dieser Organisation in Gott angelegt, in
seiner Offenbarung verkündigt und nach seinem Plane in
der Geschichte der Menschheit verwirklicht ist und sich weiter ver-
wirklichen wird. Hiermit war gegenüber dem Alterthum ein Fort-
schritt von großer Bedeutung vollzogen. Das Zweckleben der
Menschheit, wie es in den Systemen der Kultur sich entfaltet und
durch die äußere Organisation der Gesellschaft wirkt, wurde als
ein einheitliches System erkannt und auf ein erklärendes Prinzip
zurückgeführt. So erlangte die Erkenntniß des inneren Zusammen-
hangs in den Vorgängen der menschlichen Gesellschaft ein In-

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
daß Gott von der Urheberſchaft des Böſen freigeſprochen werden
könnte; ſie vermag nicht den Widerſpruch zwiſchen dem göttlichen
Vorherwiſſen und der Freiheit des Menſchen aufzulöſen.

Die veränderte Anſchauung des Reiches der Geiſter ſpiegelt
ſich in der von den chriſtlich gewordenen romaniſch-germaniſchen
Völkern geſchaffenen Dichtung des Mittelalters, in den ritterlichen
Epen ſo gut als in Dantes göttlicher Komödie. Nicht mehr in
ſich geſchloſſene Typen allein, welche gegeneinander in Wirkſamkeit
treten, erſcheinen in dieſer Dichtung, ſondern Geſchichte des Seelen-
lebens, insbeſondere des Willens, wie denn Auguſtinus ſagt:
immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt, alsdann Auf-
faſſung dieſer Geſchichte des Willens nach ihren Beziehungen zu
dem providentiellen Willen Gottes; in dieſer Auffaſſung iſt aber
ein ungelöſter Zwieſpalt zwiſchen der inneren freien Entwicklung
und dem dunklen Hintergrund von Kräften aller Art, die ihn
beeinfluſſen.

Das Reich der Einzelgeiſter verwirklicht nun einen
metaphyſiſchen Zweckzuſammenhang, welcher in der
Offenbarung ausgeſprochen iſt. Hierin ſtimmt das ganze
europäiſche Mittelalter überein, und nur die Frage, wie viel von
dieſem Inhalt aller Geſchichte in Begriffen erkannt werden kann,
wird ungleich entſchieden.

Die Metaphyſik des Verlaufs der Geſchichte und der Or-
ganiſation der Geſellſchaft hat während des Mittelalters ihre
letzten Gründe in dem Bewußtſein, daß der ideale Gehalt
dieſes Verlaufs und dieſer Organiſation in Gott angelegt, in
ſeiner Offenbarung verkündigt und nach ſeinem Plane in
der Geſchichte der Menſchheit verwirklicht iſt und ſich weiter ver-
wirklichen wird. Hiermit war gegenüber dem Alterthum ein Fort-
ſchritt von großer Bedeutung vollzogen. Das Zweckleben der
Menſchheit, wie es in den Syſtemen der Kultur ſich entfaltet und
durch die äußere Organiſation der Geſellſchaft wirkt, wurde als
ein einheitliches Syſtem erkannt und auf ein erklärendes Prinzip
zurückgeführt. So erlangte die Erkenntniß des inneren Zuſammen-
hangs in den Vorgängen der menſchlichen Geſellſchaft ein In-

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[422/0445] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. daß Gott von der Urheberſchaft des Böſen freigeſprochen werden könnte; ſie vermag nicht den Widerſpruch zwiſchen dem göttlichen Vorherwiſſen und der Freiheit des Menſchen aufzulöſen. Die veränderte Anſchauung des Reiches der Geiſter ſpiegelt ſich in der von den chriſtlich gewordenen romaniſch-germaniſchen Völkern geſchaffenen Dichtung des Mittelalters, in den ritterlichen Epen ſo gut als in Dantes göttlicher Komödie. Nicht mehr in ſich geſchloſſene Typen allein, welche gegeneinander in Wirkſamkeit treten, erſcheinen in dieſer Dichtung, ſondern Geſchichte des Seelen- lebens, insbeſondere des Willens, wie denn Auguſtinus ſagt: immo omnes nihil aliud quam voluntates sunt, alsdann Auf- faſſung dieſer Geſchichte des Willens nach ihren Beziehungen zu dem providentiellen Willen Gottes; in dieſer Auffaſſung iſt aber ein ungelöſter Zwieſpalt zwiſchen der inneren freien Entwicklung und dem dunklen Hintergrund von Kräften aller Art, die ihn beeinfluſſen. Das Reich der Einzelgeiſter verwirklicht nun einen metaphyſiſchen Zweckzuſammenhang, welcher in der Offenbarung ausgeſprochen iſt. Hierin ſtimmt das ganze europäiſche Mittelalter überein, und nur die Frage, wie viel von dieſem Inhalt aller Geſchichte in Begriffen erkannt werden kann, wird ungleich entſchieden. Die Metaphyſik des Verlaufs der Geſchichte und der Or- ganiſation der Geſellſchaft hat während des Mittelalters ihre letzten Gründe in dem Bewußtſein, daß der ideale Gehalt dieſes Verlaufs und dieſer Organiſation in Gott angelegt, in ſeiner Offenbarung verkündigt und nach ſeinem Plane in der Geſchichte der Menſchheit verwirklicht iſt und ſich weiter ver- wirklichen wird. Hiermit war gegenüber dem Alterthum ein Fort- ſchritt von großer Bedeutung vollzogen. Das Zweckleben der Menſchheit, wie es in den Syſtemen der Kultur ſich entfaltet und durch die äußere Organiſation der Geſellſchaft wirkt, wurde als ein einheitliches Syſtem erkannt und auf ein erklärendes Prinzip zurückgeführt. So erlangte die Erkenntniß des inneren Zuſammen- hangs in den Vorgängen der menſchlichen Geſellſchaft ein In-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/445>, abgerufen am 22.11.2024.