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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Zusammenhang der Welt findet sich gegenüber den freien Willen
in Gott, dessen Ausdruck die geschichtliche Welt, die Schöpfung
aus Nichts und die moralisch-religiöse Ordnung der Gesellschaft
sind. Hier begegnen wir der ersten, noch unvollkommenen Form
eines Gegensatzes, welcher die Metaphysik von innen zerstören und
eine selbständige Geisteswissenschaft der Naturwissenschaft gegenüber-
stellen mußte. Ja Kant's Kritik der Metaphysik empfing ihre
Richtung durch diese Aufgabe, den nothwendigen Kausalzusammen-
hang mit der moralischen Welt zusammenzudenken.

Oder wie sollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel-
thatsachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken-
den Ideenzusammenhangs in einem Willen Bestand haben, der
lebendige Geschichte ist, dessen Vorsehung auf das Einzelne sich
richtet und dessen Thaten Einzelrealität sind? Mit formaler Ge-
schicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag
dieser Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er
erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher
auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können1), und da-
mit ist der denknothwendige metaphysische Zusammenhang so weit
aufgehoben, als dieser freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu-
sammenhang ausschließt. -- Und entsteht weiter die Aufgabe, Ver-
stand und Willen in Gott, diese sich befehdenden Abstraktionen,
in einen psychologischen Zusammenhang zu setzen, so finden wir
eine solche Vorstellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete
Analogie des menschlichen Bewußtseins geleitet; romanhafte Spiegel-
bilder unseres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in's Große,
treten uns gegenüber. So gewiß die Persönlichkeit Gottes in
unserem Leben als Realität gegeben ist, weil wir uns selbst ge-
geben sind, so gewiß können wir doch nur durch eine spielende
Uebertragung in die Gottheit uns versetzen, wobei dann der Wider-

1) Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas ist eben da-
durch voluntas, daß eine ratio für den Zusammenhang, aus welchem
der Willensakt hervorgeht, nicht aufgestellt werden kann, vgl. ebds. II dist.
1 qu.
2. Die Unterscheidung eines ersten und zweiten Verstandes in Gott
(ebds. I dist. 39) löst die so entstehende Antinomie nicht auf.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willen
in Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung
aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft
ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form
eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und
eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber-
ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre
Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen-
hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken.

Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel-
thatſachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken-
den Ideenzuſammenhangs in einem Willen Beſtand haben, der
lebendige Geſchichte iſt, deſſen Vorſehung auf das Einzelne ſich
richtet und deſſen Thaten Einzelrealität ſind? Mit formaler Ge-
ſchicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag
dieſer Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er
erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher
auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können1), und da-
mit iſt der denknothwendige metaphyſiſche Zuſammenhang ſo weit
aufgehoben, als dieſer freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu-
ſammenhang ausſchließt. — Und entſteht weiter die Aufgabe, Ver-
ſtand und Willen in Gott, dieſe ſich befehdenden Abſtraktionen,
in einen pſychologiſchen Zuſammenhang zu ſetzen, ſo finden wir
eine ſolche Vorſtellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete
Analogie des menſchlichen Bewußtſeins geleitet; romanhafte Spiegel-
bilder unſeres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in’s Große,
treten uns gegenüber. So gewiß die Perſönlichkeit Gottes in
unſerem Leben als Realität gegeben iſt, weil wir uns ſelbſt ge-
geben ſind, ſo gewiß können wir doch nur durch eine ſpielende
Uebertragung in die Gottheit uns verſetzen, wobei dann der Wider-

1) Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas iſt eben da-
durch voluntas, daß eine ratio für den Zuſammenhang, aus welchem
der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. II dist.
1 qu.
2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott
(ebdſ. I dist. 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf.
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[416/0439] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Zuſammenhang der Welt findet ſich gegenüber den freien Willen in Gott, deſſen Ausdruck die geſchichtliche Welt, die Schöpfung aus Nichts und die moraliſch-religiöſe Ordnung der Geſellſchaft ſind. Hier begegnen wir der erſten, noch unvollkommenen Form eines Gegenſatzes, welcher die Metaphyſik von innen zerſtören und eine ſelbſtändige Geiſteswiſſenſchaft der Naturwiſſenſchaft gegenüber- ſtellen mußte. Ja Kant’s Kritik der Metaphyſik empfing ihre Richtung durch dieſe Aufgabe, den nothwendigen Kauſalzuſammen- hang mit der moraliſchen Welt zuſammenzudenken. Oder wie ſollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzel- thatſachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrücken- den Ideenzuſammenhangs in einem Willen Beſtand haben, der lebendige Geſchichte iſt, deſſen Vorſehung auf das Einzelne ſich richtet und deſſen Thaten Einzelrealität ſind? Mit formaler Ge- ſchicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag dieſer Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können 1), und da- mit iſt der denknothwendige metaphyſiſche Zuſammenhang ſo weit aufgehoben, als dieſer freie Wille reicht, welcher den rationalen Zu- ſammenhang ausſchließt. — Und entſteht weiter die Aufgabe, Ver- ſtand und Willen in Gott, dieſe ſich befehdenden Abſtraktionen, in einen pſychologiſchen Zuſammenhang zu ſetzen, ſo finden wir eine ſolche Vorſtellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete Analogie des menſchlichen Bewußtſeins geleitet; romanhafte Spiegel- bilder unſeres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen in’s Große, treten uns gegenüber. So gewiß die Perſönlichkeit Gottes in unſerem Leben als Realität gegeben iſt, weil wir uns ſelbſt ge- geben ſind, ſo gewiß können wir doch nur durch eine ſpielende Uebertragung in die Gottheit uns verſetzen, wobei dann der Wider- 1) Duns Scotus in sent. I. dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas iſt eben da- durch voluntas, daß eine ratio für den Zuſammenhang, aus welchem der Willensakt hervorgeht, nicht aufgeſtellt werden kann, vgl. ebdſ. II dist. 1 qu. 2. Die Unterſcheidung eines erſten und zweiten Verſtandes in Gott (ebdſ. I dist. 39) löſt die ſo entſtehende Antinomie nicht auf.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 416. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/439>, abgerufen am 22.11.2024.