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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
daß sie der Auflösung in Vernunftzusammenhang unzugänglich ist,
macht eben ihren Charakter aus. Sonach sind das Denken in
Gott und der Wille in ihm zwei letzte Erklärungsgründe,
deren keiner auf den anderen zurückgeführt zu werden vermag1).
Zwar ist der Intellekt die Bedingung des Willens, aber dieser
letztere kann das was der Intellekt vorstellt, wollen oder nicht
wollen, ganz unabhängig von jenem. So ist in dem System des
Duns Scotus Dualismus der Ausdruck der Antinomie, von
welcher es bewegt ist. Er hat diese Antinomie so durchschaut, daß
seine Begriffe nur in das Psychologische und Erkenntnißtheoretische
umgedacht zu werden brauchen. Denn der Verstand ist nach ihm
eine natürliche und nach dem Gesetze der Nothwendigkeit wirkende
Kraft, in dem Willen, aber nur in ihm allein, wird der nothwendige
Naturzusammenhang überschritten, und zwar ist der Wille eben
frei, sofern hier das Aufsuchen einer ratio endet2). Schließlich hat
Duns Scotus die Annahme der vom Verstande getrennten Frei-
heit in Gott bis zu dem Satze verfolgt, daß auch sittliche Gesetze
ihm in diesem Willkürakte Gottes allein begründet schienen.

So erkennt das Denken des Mittelalters die Unmöglichkeit,
ein inneres Verhältniß von Wille und Intellekt in diesem höchsten
göttlichen Wesen (dem Abbilde des Gegensatzes unseres wissen-
schaftlichen Denkens des Kosmos und unserer Willenserfahrungen
in ungeheurem Maßstabe) zu entwerfen; denn es kann weder
Wille in Gott noch Verstand in ihm leugnen, es vermag auch
nicht eins dem andern unterzuordnen und am wenigsten kann
es sie koordinirt nebeneinander stellen, als letzte objektive und
einander heterogene Thatsachen, wie Duns Scotus gethan hatte.

Und wie in Ibn Roschd die eine Seite dieser antinomischen
Weltordnung einseitig entwickelt worden war, so finden wir in

1) Duns Scotus in sent. I dist. 2.
2) In sent. II dist. 1 qu. 2: sicut non est ratio, quare voluit
naturam humanam in hoc individuo esse et esse possibile et contingens:
ita non est ratio, quare hoc voluit nunc et non tunc esse, sed tantum
quia voluit hoc esse, ideo bonum fuit illud esse.
Vgl. hierzu und zur ganzen
Lehre vom Willen Duns Scotus quaestiones quodlibetales, quaest. 16.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
daß ſie der Auflöſung in Vernunftzuſammenhang unzugänglich iſt,
macht eben ihren Charakter aus. Sonach ſind das Denken in
Gott und der Wille in ihm zwei letzte Erklärungsgründe,
deren keiner auf den anderen zurückgeführt zu werden vermag1).
Zwar iſt der Intellekt die Bedingung des Willens, aber dieſer
letztere kann das was der Intellekt vorſtellt, wollen oder nicht
wollen, ganz unabhängig von jenem. So iſt in dem Syſtem des
Duns Scotus Dualismus der Ausdruck der Antinomie, von
welcher es bewegt iſt. Er hat dieſe Antinomie ſo durchſchaut, daß
ſeine Begriffe nur in das Pſychologiſche und Erkenntnißtheoretiſche
umgedacht zu werden brauchen. Denn der Verſtand iſt nach ihm
eine natürliche und nach dem Geſetze der Nothwendigkeit wirkende
Kraft, in dem Willen, aber nur in ihm allein, wird der nothwendige
Naturzuſammenhang überſchritten, und zwar iſt der Wille eben
frei, ſofern hier das Aufſuchen einer ratio endet2). Schließlich hat
Duns Scotus die Annahme der vom Verſtande getrennten Frei-
heit in Gott bis zu dem Satze verfolgt, daß auch ſittliche Geſetze
ihm in dieſem Willkürakte Gottes allein begründet ſchienen.

So erkennt das Denken des Mittelalters die Unmöglichkeit,
ein inneres Verhältniß von Wille und Intellekt in dieſem höchſten
göttlichen Weſen (dem Abbilde des Gegenſatzes unſeres wiſſen-
ſchaftlichen Denkens des Kosmos und unſerer Willenserfahrungen
in ungeheurem Maßſtabe) zu entwerfen; denn es kann weder
Wille in Gott noch Verſtand in ihm leugnen, es vermag auch
nicht eins dem andern unterzuordnen und am wenigſten kann
es ſie koordinirt nebeneinander ſtellen, als letzte objektive und
einander heterogene Thatſachen, wie Duns Scotus gethan hatte.

Und wie in Ibn Roſchd die eine Seite dieſer antinomiſchen
Weltordnung einſeitig entwickelt worden war, ſo finden wir in

1) Duns Scotus in sent. I dist. 2.
2) In sent. II dist. 1 qu. 2: sicut non est ratio, quare voluit
naturam humanam in hoc individuo esse et esse possibile et contingens:
ita non est ratio, quare hoc voluit nunc et non tunc esse, sed tantum
quia voluit hoc esse, ideo bonum fuit illud esse.
Vgl. hierzu und zur ganzen
Lehre vom Willen Duns Scotus quaestiones quodlibetales, quaest. 16.
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[410/0433] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. daß ſie der Auflöſung in Vernunftzuſammenhang unzugänglich iſt, macht eben ihren Charakter aus. Sonach ſind das Denken in Gott und der Wille in ihm zwei letzte Erklärungsgründe, deren keiner auf den anderen zurückgeführt zu werden vermag 1). Zwar iſt der Intellekt die Bedingung des Willens, aber dieſer letztere kann das was der Intellekt vorſtellt, wollen oder nicht wollen, ganz unabhängig von jenem. So iſt in dem Syſtem des Duns Scotus Dualismus der Ausdruck der Antinomie, von welcher es bewegt iſt. Er hat dieſe Antinomie ſo durchſchaut, daß ſeine Begriffe nur in das Pſychologiſche und Erkenntnißtheoretiſche umgedacht zu werden brauchen. Denn der Verſtand iſt nach ihm eine natürliche und nach dem Geſetze der Nothwendigkeit wirkende Kraft, in dem Willen, aber nur in ihm allein, wird der nothwendige Naturzuſammenhang überſchritten, und zwar iſt der Wille eben frei, ſofern hier das Aufſuchen einer ratio endet 2). Schließlich hat Duns Scotus die Annahme der vom Verſtande getrennten Frei- heit in Gott bis zu dem Satze verfolgt, daß auch ſittliche Geſetze ihm in dieſem Willkürakte Gottes allein begründet ſchienen. So erkennt das Denken des Mittelalters die Unmöglichkeit, ein inneres Verhältniß von Wille und Intellekt in dieſem höchſten göttlichen Weſen (dem Abbilde des Gegenſatzes unſeres wiſſen- ſchaftlichen Denkens des Kosmos und unſerer Willenserfahrungen in ungeheurem Maßſtabe) zu entwerfen; denn es kann weder Wille in Gott noch Verſtand in ihm leugnen, es vermag auch nicht eins dem andern unterzuordnen und am wenigſten kann es ſie koordinirt nebeneinander ſtellen, als letzte objektive und einander heterogene Thatſachen, wie Duns Scotus gethan hatte. Und wie in Ibn Roſchd die eine Seite dieſer antinomiſchen Weltordnung einſeitig entwickelt worden war, ſo finden wir in 1) Duns Scotus in sent. I dist. 2. 2) In sent. II dist. 1 qu. 2: sicut non est ratio, quare voluit naturam humanam in hoc individuo esse et esse possibile et contingens: ita non est ratio, quare hoc voluit nunc et non tunc esse, sed tantum quia voluit hoc esse, ideo bonum fuit illud esse. Vgl. hierzu und zur ganzen Lehre vom Willen Duns Scotus quaestiones quodlibetales, quaest. 16.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/433>, abgerufen am 25.11.2024.