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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der einzige strenge Beweis einer Seelensubstanz von Plotin entwickelt.
noch erkennen läßt, daß schon Ammonius die Immaterialität der
Seele zu erweisen unternahm1), so finden wir bei Plotin diesen
Beweis zu einer vollständigen Metaphysik des Seelenlebens ent-
wickelt, welche sich gegen die Theorien der Epikureer und Stoiker
wendet. Mit ihm berührt sich an manchen Punkten Origenes
in seiner Schrift über die Prinzipien, er löst für die im Kampfe
mit den Gnostikern begriffenen christlichen Gemeinden dieselbe Auf-
gabe, wie Plotin für die heidnische Welt.

Plotin erweist durch eine lange Reihe von Gründen, daß die
Seele als ein immaterielles Wesen existirt. -- Wir heben zunächst
das folgende Argument hervor: das Erkennen ist außer Stande,
aus den Verhältnissen körperlicher Elemente zu einander einen
geistigen Thatbestand abzuleiten, keine Zusammensetzung macht das
Hervortreten von Bewußtsein, das in den Komponenten nicht vor-
handen war, erklärlich; dem Vernunftlosen kann durch keine Kunst
Vernunft abgewonnen werden2). Diese Beweisführung hat nur
die Tragweite, psychisches Leben als eine für unser Erkennen von
dem materiellen Thatbestand ganz unterschiedene, nie auf ihn zu-
rückzuführende Thatsache aufzuzeigen3). -- Aber Plotin geht in
diesem Zusammenhang zu demjenigen Beweis fort, welcher in
der europäischen Metaphysik die erste Stelle behauptet hat. Er
war bei Plato und Aristoteles vorbereitet. Plato hatte mit
tiefem Blicke hervorgehoben: wenn wir im Stande sind, das in
verschiedenen Sinnen Gegebene zu vergleichen, Aehnlichkeit oder
Unähnlichkeit auszusprechen, dann kann das nur in einem von
den Sinnesorganen Verschiedenen, in der Seele selber geschehen4).
Dann hatte Aristoteles erkannt, daß ein Urtheil: süß ist
nicht weiß, unmöglich ist, wenn diese Empfindungen an ver-

1) Nemesius de natura hominis c. 2. 3.
2) Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 456 ff., gegen die Epikureer (p. 457), einige
Peripatetiker (p. 458) und die Stoiker (p. 458 f.) gerichtet und ein vortrefflicher
Nachweis der Unmöglichkeit einer Ableitung psychischer Thatsachen, wenn
dieselben nicht schon in den Erklärungsgründen vorausgesetzt sind.
3) Vgl. S. 11 ff.
4) Plato Theaet. 185 ff.

Der einzige ſtrenge Beweis einer Seelenſubſtanz von Plotin entwickelt.
noch erkennen läßt, daß ſchon Ammonius die Immaterialität der
Seele zu erweiſen unternahm1), ſo finden wir bei Plotin dieſen
Beweis zu einer vollſtändigen Metaphyſik des Seelenlebens ent-
wickelt, welche ſich gegen die Theorien der Epikureer und Stoiker
wendet. Mit ihm berührt ſich an manchen Punkten Origenes
in ſeiner Schrift über die Prinzipien, er löſt für die im Kampfe
mit den Gnoſtikern begriffenen chriſtlichen Gemeinden dieſelbe Auf-
gabe, wie Plotin für die heidniſche Welt.

Plotin erweiſt durch eine lange Reihe von Gründen, daß die
Seele als ein immaterielles Weſen exiſtirt. — Wir heben zunächſt
das folgende Argument hervor: das Erkennen iſt außer Stande,
aus den Verhältniſſen körperlicher Elemente zu einander einen
geiſtigen Thatbeſtand abzuleiten, keine Zuſammenſetzung macht das
Hervortreten von Bewußtſein, das in den Komponenten nicht vor-
handen war, erklärlich; dem Vernunftloſen kann durch keine Kunſt
Vernunft abgewonnen werden2). Dieſe Beweisführung hat nur
die Tragweite, pſychiſches Leben als eine für unſer Erkennen von
dem materiellen Thatbeſtand ganz unterſchiedene, nie auf ihn zu-
rückzuführende Thatſache aufzuzeigen3). — Aber Plotin geht in
dieſem Zuſammenhang zu demjenigen Beweis fort, welcher in
der europäiſchen Metaphyſik die erſte Stelle behauptet hat. Er
war bei Plato und Ariſtoteles vorbereitet. Plato hatte mit
tiefem Blicke hervorgehoben: wenn wir im Stande ſind, das in
verſchiedenen Sinnen Gegebene zu vergleichen, Aehnlichkeit oder
Unähnlichkeit auszuſprechen, dann kann das nur in einem von
den Sinnesorganen Verſchiedenen, in der Seele ſelber geſchehen4).
Dann hatte Ariſtoteles erkannt, daß ein Urtheil: ſüß iſt
nicht weiß, unmöglich iſt, wenn dieſe Empfindungen an ver-

1) Nemeſius de natura hominis c. 2. 3.
2) Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 456 ff., gegen die Epikureer (p. 457), einige
Peripatetiker (p. 458) und die Stoiker (p. 458 f.) gerichtet und ein vortrefflicher
Nachweis der Unmöglichkeit einer Ableitung pſychiſcher Thatſachen, wenn
dieſelben nicht ſchon in den Erklärungsgründen vorausgeſetzt ſind.
3) Vgl. S. 11 ff.
4) Plato Theaet. 185 ff.
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[397/0420] Der einzige ſtrenge Beweis einer Seelenſubſtanz von Plotin entwickelt. noch erkennen läßt, daß ſchon Ammonius die Immaterialität der Seele zu erweiſen unternahm 1), ſo finden wir bei Plotin dieſen Beweis zu einer vollſtändigen Metaphyſik des Seelenlebens ent- wickelt, welche ſich gegen die Theorien der Epikureer und Stoiker wendet. Mit ihm berührt ſich an manchen Punkten Origenes in ſeiner Schrift über die Prinzipien, er löſt für die im Kampfe mit den Gnoſtikern begriffenen chriſtlichen Gemeinden dieſelbe Auf- gabe, wie Plotin für die heidniſche Welt. Plotin erweiſt durch eine lange Reihe von Gründen, daß die Seele als ein immaterielles Weſen exiſtirt. — Wir heben zunächſt das folgende Argument hervor: das Erkennen iſt außer Stande, aus den Verhältniſſen körperlicher Elemente zu einander einen geiſtigen Thatbeſtand abzuleiten, keine Zuſammenſetzung macht das Hervortreten von Bewußtſein, das in den Komponenten nicht vor- handen war, erklärlich; dem Vernunftloſen kann durch keine Kunſt Vernunft abgewonnen werden 2). Dieſe Beweisführung hat nur die Tragweite, pſychiſches Leben als eine für unſer Erkennen von dem materiellen Thatbeſtand ganz unterſchiedene, nie auf ihn zu- rückzuführende Thatſache aufzuzeigen 3). — Aber Plotin geht in dieſem Zuſammenhang zu demjenigen Beweis fort, welcher in der europäiſchen Metaphyſik die erſte Stelle behauptet hat. Er war bei Plato und Ariſtoteles vorbereitet. Plato hatte mit tiefem Blicke hervorgehoben: wenn wir im Stande ſind, das in verſchiedenen Sinnen Gegebene zu vergleichen, Aehnlichkeit oder Unähnlichkeit auszuſprechen, dann kann das nur in einem von den Sinnesorganen Verſchiedenen, in der Seele ſelber geſchehen 4). Dann hatte Ariſtoteles erkannt, daß ein Urtheil: ſüß iſt nicht weiß, unmöglich iſt, wenn dieſe Empfindungen an ver- 1) Nemeſius de natura hominis c. 2. 3. 2) Plotinus Enn. IV 1. 7 p. 456 ff., gegen die Epikureer (p. 457), einige Peripatetiker (p. 458) und die Stoiker (p. 458 f.) gerichtet und ein vortrefflicher Nachweis der Unmöglichkeit einer Ableitung pſychiſcher Thatſachen, wenn dieſelben nicht ſchon in den Erklärungsgründen vorausgeſetzt ſind. 3) Vgl. S. 11 ff. 4) Plato Theaet. 185 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/420>, abgerufen am 25.11.2024.