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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
tigte sich der Nation. Aus Konstantinopel kam unter al Mamun
(813--833) eine große Anzahl von griechischen Manuskripten als
Geschenk des Kaisers; eine von den Kalifen angeordnete geregelte
Thätigkeit der Uebertragung erfüllte das neunte Jahrhundert und
reichte in das zehnte hinein; Uebersetzungen von Schriften des
Aristoteles, Hippocrates, Galen, Dioscorides, Euklid, Apollonius
Pergäus, Archimedes, Ptolemäus setzten die Araber in die Lage,
die naturwissenschaftliche Arbeit da wieder aufzunehmen, wo die
Griechen sie hatten fallen lassen.

Die so entstandene naturwissenschaftliche Bewegung innerhalb
des Islam hat die positiven Wissenschaften fortgebildet, welche in
Alexandrien bestanden hatten, und die Differenzirung der Wissen-
schaft aufrecht erhalten, wie sie damals vollzogen war. Die Be-
deutung der Araber für die Entwicklung dieses positiven Natur-
wissens kann zwar noch nicht mit zureichender Sicherheit fest-
gestellt werden 1), doch ist die Wichtigkeit der Vermittlung keinem
Zweifel unterworfen, die ihnen nach ihrer geographischen Lage und
ihrer Verbreitung über ein so weites Reich zufiel. So verdankt
das Abendland ihrer Vermittlerrolle das indische Positionssystem der
Ziffern und die Erweiterung der griechischen Algebra 2).

Und in einer zwiefachen Richtung haben sie ohne Zweifel durch
selbständige Fortschritte die Entstehung der modernen Na-
turwissenschaft vorbereitet.

Die Araber haben die alchemistische Kunst mit anderer
Wissenschaft aus Alexandrien empfangen. Wir kennen leider den Zu-
stand nicht ausreichend, in welchem dieselbe auf sie überging. Diese
Kunst, die auf Metallveredlung gerichtet war, verselbständigte das
chemische Experiment, welches vorher in dem Dienste bald der
Medicin bald der Technik gestanden hatte. Sie entzündete so einen

1) Sedillot Materiaux p. s. a l'histoire comparee des sciences
mathematiques I, 236
.
2) Ueber die Uebertragung des als "indisch" ausdrücklich bei den Arabern
bezeichneten Systems Wöpcke Mem. sur la propagation des chiffres in-
diens. Journal asiatique 1863 I, 27;
über die Möglichkeiten, die Her-
kunft der Algebra zu bestimmen, Hankel, Z. Gesch. d. Mathematik S. 259 ff.
Cantor, Gesch. d. Mathematik I, 620 ff.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
tigte ſich der Nation. Aus Konſtantinopel kam unter al Mamun
(813—833) eine große Anzahl von griechiſchen Manuſkripten als
Geſchenk des Kaiſers; eine von den Kalifen angeordnete geregelte
Thätigkeit der Uebertragung erfüllte das neunte Jahrhundert und
reichte in das zehnte hinein; Ueberſetzungen von Schriften des
Ariſtoteles, Hippocrates, Galen, Dioscorides, Euklid, Apollonius
Pergäus, Archimedes, Ptolemäus ſetzten die Araber in die Lage,
die naturwiſſenſchaftliche Arbeit da wieder aufzunehmen, wo die
Griechen ſie hatten fallen laſſen.

Die ſo entſtandene naturwiſſenſchaftliche Bewegung innerhalb
des Islam hat die poſitiven Wiſſenſchaften fortgebildet, welche in
Alexandrien beſtanden hatten, und die Differenzirung der Wiſſen-
ſchaft aufrecht erhalten, wie ſie damals vollzogen war. Die Be-
deutung der Araber für die Entwicklung dieſes poſitiven Natur-
wiſſens kann zwar noch nicht mit zureichender Sicherheit feſt-
geſtellt werden 1), doch iſt die Wichtigkeit der Vermittlung keinem
Zweifel unterworfen, die ihnen nach ihrer geographiſchen Lage und
ihrer Verbreitung über ein ſo weites Reich zufiel. So verdankt
das Abendland ihrer Vermittlerrolle das indiſche Poſitionsſyſtem der
Ziffern und die Erweiterung der griechiſchen Algebra 2).

Und in einer zwiefachen Richtung haben ſie ohne Zweifel durch
ſelbſtändige Fortſchritte die Entſtehung der modernen Na-
turwiſſenſchaft vorbereitet.

Die Araber haben die alchemiſtiſche Kunſt mit anderer
Wiſſenſchaft aus Alexandrien empfangen. Wir kennen leider den Zu-
ſtand nicht ausreichend, in welchem dieſelbe auf ſie überging. Dieſe
Kunſt, die auf Metallveredlung gerichtet war, verſelbſtändigte das
chemiſche Experiment, welches vorher in dem Dienſte bald der
Medicin bald der Technik geſtanden hatte. Sie entzündete ſo einen

1) Sédillot Matériaux p. s. à l’histoire comparée des sciences
mathématiques I, 236
.
2) Ueber die Uebertragung des als „indiſch“ ausdrücklich bei den Arabern
bezeichneten Syſtems Wöpcke Mém. sur la propagation des chiffres in-
diens. Journal asiatique 1863 I, 27;
über die Möglichkeiten, die Her-
kunft der Algebra zu beſtimmen, Hankel, Z. Geſch. d. Mathematik S. 259 ff.
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[372/0395] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. tigte ſich der Nation. Aus Konſtantinopel kam unter al Mamun (813—833) eine große Anzahl von griechiſchen Manuſkripten als Geſchenk des Kaiſers; eine von den Kalifen angeordnete geregelte Thätigkeit der Uebertragung erfüllte das neunte Jahrhundert und reichte in das zehnte hinein; Ueberſetzungen von Schriften des Ariſtoteles, Hippocrates, Galen, Dioscorides, Euklid, Apollonius Pergäus, Archimedes, Ptolemäus ſetzten die Araber in die Lage, die naturwiſſenſchaftliche Arbeit da wieder aufzunehmen, wo die Griechen ſie hatten fallen laſſen. Die ſo entſtandene naturwiſſenſchaftliche Bewegung innerhalb des Islam hat die poſitiven Wiſſenſchaften fortgebildet, welche in Alexandrien beſtanden hatten, und die Differenzirung der Wiſſen- ſchaft aufrecht erhalten, wie ſie damals vollzogen war. Die Be- deutung der Araber für die Entwicklung dieſes poſitiven Natur- wiſſens kann zwar noch nicht mit zureichender Sicherheit feſt- geſtellt werden 1), doch iſt die Wichtigkeit der Vermittlung keinem Zweifel unterworfen, die ihnen nach ihrer geographiſchen Lage und ihrer Verbreitung über ein ſo weites Reich zufiel. So verdankt das Abendland ihrer Vermittlerrolle das indiſche Poſitionsſyſtem der Ziffern und die Erweiterung der griechiſchen Algebra 2). Und in einer zwiefachen Richtung haben ſie ohne Zweifel durch ſelbſtändige Fortſchritte die Entſtehung der modernen Na- turwiſſenſchaft vorbereitet. Die Araber haben die alchemiſtiſche Kunſt mit anderer Wiſſenſchaft aus Alexandrien empfangen. Wir kennen leider den Zu- ſtand nicht ausreichend, in welchem dieſelbe auf ſie überging. Dieſe Kunſt, die auf Metallveredlung gerichtet war, verſelbſtändigte das chemiſche Experiment, welches vorher in dem Dienſte bald der Medicin bald der Technik geſtanden hatte. Sie entzündete ſo einen 1) Sédillot Matériaux p. s. à l’histoire comparée des sciences mathématiques I, 236. 2) Ueber die Uebertragung des als „indiſch“ ausdrücklich bei den Arabern bezeichneten Syſtems Wöpcke Mém. sur la propagation des chiffres in- diens. Journal asiatique 1863 I, 27; über die Möglichkeiten, die Her- kunft der Algebra zu beſtimmen, Hankel, Z. Geſch. d. Mathematik S. 259 ff. Cantor, Geſch. d. Mathematik I, 620 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/395>, abgerufen am 22.11.2024.