Fünftes Kapitel. Die Theologie wird mit der Naturerkenntniß und der aristotelischen Wissenschaft vom Kosmos verknüpft.
Die Theologie war von ihrem Ursprung ab mit Be- standtheilen der antiken Wissenschaft vom Kosmos verwoben. Sie benutzte diese Bestandtheile für die Auflösung ihrer Probleme, gleichviel ob sie aus der platonischen, aristotelischen oder stoischen Philosophie stammten, wie man in die Kirchen jener Tage Mar- mortrümmer fügte, wo man sie fand. Formel, Vertheidigung, Versuch des Beweises und der dialektischen Behandlung lagen innerhalb ihres Umkreises. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Frei- denker im Morgen- wie im Abendlande 1).
Aber in der Kontinuität der Wissenschaft erhielt und ent- wickelte sich die von den Griechen geschaffene Erkenntniß des Kosmos als die andere von jener Theologie ganz unter- schiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Diese Wissenschaft vom Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie streitend, ergänzend zusammen: so entstand erst die metaphysische Weltansicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern die Veränderung an, in welcher das Naturwissen sich langsam durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abend- landes im Mittelalter am meisten durchgreifend gewesen ist. Wir gehen sonach von den Arabern aus.
Der Gegensatz des metaphysischen Denkens der Araber wie der Juden zu dem der klassischen Völker ist ihnen selber zum Be- wußtsein gekommen. Die Uebersicht der metaphysischen und theo- logischen Ansichten des Menschengeschlechtes, wie sie Schahrastani versucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern ange- wandte Unterscheidung, nach welcher die Griechen (nebst den Per- sern) vornehmlich der Bestimmung der äußeren Natur der Dinge
1) Ueber das zersetzende Treiben skeptischer Sekten des Islam Renan Averroe 3 S. 103 f.
Dilthey, Einleitung. 24
Die Araber.
Fünftes Kapitel. Die Theologie wird mit der Naturerkenntniß und der ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos verknüpft.
Die Theologie war von ihrem Urſprung ab mit Be- ſtandtheilen der antiken Wiſſenſchaft vom Kosmos verwoben. Sie benutzte dieſe Beſtandtheile für die Auflöſung ihrer Probleme, gleichviel ob ſie aus der platoniſchen, ariſtoteliſchen oder ſtoiſchen Philoſophie ſtammten, wie man in die Kirchen jener Tage Mar- mortrümmer fügte, wo man ſie fand. Formel, Vertheidigung, Verſuch des Beweiſes und der dialektiſchen Behandlung lagen innerhalb ihres Umkreiſes. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Frei- denker im Morgen- wie im Abendlande 1).
Aber in der Kontinuität der Wiſſenſchaft erhielt und ent- wickelte ſich die von den Griechen geſchaffene Erkenntniß des Kosmos als die andere von jener Theologie ganz unter- ſchiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Dieſe Wiſſenſchaft vom Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie ſtreitend, ergänzend zuſammen: ſo entſtand erſt die metaphyſiſche Weltanſicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern die Veränderung an, in welcher das Naturwiſſen ſich langſam durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abend- landes im Mittelalter am meiſten durchgreifend geweſen iſt. Wir gehen ſonach von den Arabern aus.
Der Gegenſatz des metaphyſiſchen Denkens der Araber wie der Juden zu dem der klaſſiſchen Völker iſt ihnen ſelber zum Be- wußtſein gekommen. Die Ueberſicht der metaphyſiſchen und theo- logiſchen Anſichten des Menſchengeſchlechtes, wie ſie Schahraſtani verſucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern ange- wandte Unterſcheidung, nach welcher die Griechen (nebſt den Per- ſern) vornehmlich der Beſtimmung der äußeren Natur der Dinge
1) Ueber das zerſetzende Treiben ſkeptiſcher Sekten des Islam Renan Averroè 3 S. 103 f.
Dilthey, Einleitung. 24
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0392"n="369"/><fwplace="top"type="header">Die Araber.</fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>.<lb/><hirendition="#b">Die Theologie wird mit der Naturerkenntniß und der<lb/>
ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos verknüpft.</hi></head><lb/><p>Die <hirendition="#g">Theologie</hi> war von ihrem Urſprung ab mit Be-<lb/>ſtandtheilen der antiken Wiſſenſchaft vom Kosmos verwoben. Sie<lb/>
benutzte dieſe Beſtandtheile für die Auflöſung ihrer Probleme,<lb/>
gleichviel ob ſie aus der platoniſchen, ariſtoteliſchen oder ſtoiſchen<lb/>
Philoſophie ſtammten, wie man in die Kirchen jener Tage Mar-<lb/>
mortrümmer fügte, wo man ſie fand. Formel, Vertheidigung,<lb/>
Verſuch des Beweiſes und der dialektiſchen Behandlung lagen<lb/>
innerhalb ihres Umkreiſes. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Frei-<lb/>
denker im Morgen- wie im Abendlande <noteplace="foot"n="1)">Ueber das zerſetzende Treiben ſkeptiſcher Sekten des Islam Renan<lb/><hirendition="#aq">Averroè <hirendition="#sup">3</hi></hi> S. 103 f.</note>.</p><lb/><p>Aber in der Kontinuität der Wiſſenſchaft erhielt und ent-<lb/>
wickelte ſich die von den Griechen geſchaffene <hirendition="#g">Erkenntniß</hi> des<lb/><hirendition="#g">Kosmos</hi> als die andere von jener Theologie ganz unter-<lb/>ſchiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Dieſe Wiſſenſchaft vom<lb/>
Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie<lb/>ſtreitend, ergänzend zuſammen: ſo entſtand erſt die metaphyſiſche<lb/>
Weltanſicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern<lb/>
die Veränderung an, in welcher das Naturwiſſen ſich langſam<lb/>
durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abend-<lb/>
landes im Mittelalter am meiſten durchgreifend geweſen iſt. Wir<lb/>
gehen ſonach von den <hirendition="#g">Arabern</hi> aus.</p><lb/><p>Der Gegenſatz des metaphyſiſchen Denkens der Araber wie<lb/>
der Juden zu dem der klaſſiſchen Völker iſt ihnen ſelber zum Be-<lb/>
wußtſein gekommen. Die Ueberſicht der metaphyſiſchen und theo-<lb/>
logiſchen Anſichten des Menſchengeſchlechtes, wie ſie Schahraſtani<lb/>
verſucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern ange-<lb/>
wandte Unterſcheidung, nach welcher die Griechen (nebſt den Per-<lb/>ſern) vornehmlich der Beſtimmung der äußeren Natur der Dinge<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 24</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[369/0392]
Die Araber.
Fünftes Kapitel.
Die Theologie wird mit der Naturerkenntniß und der
ariſtoteliſchen Wiſſenſchaft vom Kosmos verknüpft.
Die Theologie war von ihrem Urſprung ab mit Be-
ſtandtheilen der antiken Wiſſenſchaft vom Kosmos verwoben. Sie
benutzte dieſe Beſtandtheile für die Auflöſung ihrer Probleme,
gleichviel ob ſie aus der platoniſchen, ariſtoteliſchen oder ſtoiſchen
Philoſophie ſtammten, wie man in die Kirchen jener Tage Mar-
mortrümmer fügte, wo man ſie fand. Formel, Vertheidigung,
Verſuch des Beweiſes und der dialektiſchen Behandlung lagen
innerhalb ihres Umkreiſes. Sie hatte ihre Aufklärer, ihre Frei-
denker im Morgen- wie im Abendlande 1).
Aber in der Kontinuität der Wiſſenſchaft erhielt und ent-
wickelte ſich die von den Griechen geſchaffene Erkenntniß des
Kosmos als die andere von jener Theologie ganz unter-
ſchiedene Hälfte des intellektuellen Lebens. Dieſe Wiſſenſchaft vom
Kosmos, die Schöpfung der Griechen, traf mit der Theologie
ſtreitend, ergänzend zuſammen: ſo entſtand erſt die metaphyſiſche
Weltanſicht des Mittelalters. Und zwar hob bei den Arabern
die Veränderung an, in welcher das Naturwiſſen ſich langſam
durchkämpfte und die in der intellektuellen Entwicklung des Abend-
landes im Mittelalter am meiſten durchgreifend geweſen iſt. Wir
gehen ſonach von den Arabern aus.
Der Gegenſatz des metaphyſiſchen Denkens der Araber wie
der Juden zu dem der klaſſiſchen Völker iſt ihnen ſelber zum Be-
wußtſein gekommen. Die Ueberſicht der metaphyſiſchen und theo-
logiſchen Anſichten des Menſchengeſchlechtes, wie ſie Schahraſtani
verſucht, erwähnt an ihrem Beginn eine unter den Arabern ange-
wandte Unterſcheidung, nach welcher die Griechen (nebſt den Per-
ſern) vornehmlich der Beſtimmung der äußeren Natur der Dinge
1) Ueber das zerſetzende Treiben ſkeptiſcher Sekten des Islam Renan
Averroè 3 S. 103 f.
Dilthey, Einleitung. 24
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/392>, abgerufen am 24.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.