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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Formeln dieser Antinomie.
an einer anderen Stelle metaphysisch aus der Einheitlichkeit in der
Welt bewiesen 1). Antithesis: "Wenn wir aber annehmen,
daß der Mensch seine Handlungen nicht erwirbt, so ist nothwendig,
daß er zu ihnen gezwungen ist: denn es giebt kein Mittleres
zwischen Zwang und Erwerb; und wenn der Mensch zu seinen
Handlungen gezwungen ist, so gehört die Verantwortlichkeit in
die Kategorie des unmöglich zu Leistenden 2)." Unter den christ-
lichen Theologen des ersten Zeitraumes mittelalterlichen Denkens
hat Anselm unsere Antinomie in den folgenden zwei Widersprüchen
dargestellt. Erster Widerspruch: "Vorauswissen Gottes und
freier Wille scheinen sich zu widersprechen. Denn dasjenige was
Gott voraussieht, muß nothwendig in Zukunft eintreten, was aber
durch den freien Willen geschieht, erfolgt mit keiner Nothwendig-
keit." Zweiter Widerspruch: "Was Gott vorausbestimmt,
muß in der Zukunft eintreten. Wenn sonach Gott das Gute und
Böse was geschieht, vorausbestimmt, so geschieht nichts durch den
freien Willen;" so heben sich freier Wille und Vorausbestimmung
gegenseitig auf 3).

Welche Distinktionen die theologische Metaphysik auch in
Morgen- und Abendland gegen diese Antinomie aufgeboten hat:
innerhalb des Vorstellungsschemas und seiner Zerlegung und
Zusammensetzung durch den Verstand giebt es kein Entrinnen.
Jedes freie Subjekt tritt als eine nicht bedingte Macht neben die
Macht Gottes. Wann also der Gedanke eines allmächtigen Willens
im Bewußtsein aufgeht, dann erlöschen vor ihm, wie Sterne vor der
aufgehenden Sonne, alle Einzelwillen. In jedem Augenblick und
an jedem Punkte bedingt die Allmacht Gottes das Dasein und
den Bestand des einzelnen Willens, und wo sie zurückträte, da

1) In seiner spekulativen Dogmatik, vergl. Philosophie und Theo-
logie des Averroes, übersetzt von Müller S. 45; ich citire unter diesem Titel
und der Seitenzahl die beiden in der Uebertragung vereinten Abhand-
lungen: Harmonie der Religion und Philosophie, und spekulative Dogmatik.
2) Philosophie und Theologie des Averroes, übers. v. Müller S. 98 ff.
3) Anselm de concordia, quaest. I: Anfang; II: Anfang. Opp.
p. 507 A. 519 C
(Migne). -- Dazu Sätze und Gegensätze in Abälard, sic
et non c. 26--38. Opp. p. 1386 C
ff. (Migne).

Formeln dieſer Antinomie.
an einer anderen Stelle metaphyſiſch aus der Einheitlichkeit in der
Welt bewieſen 1). Antitheſis: „Wenn wir aber annehmen,
daß der Menſch ſeine Handlungen nicht erwirbt, ſo iſt nothwendig,
daß er zu ihnen gezwungen iſt: denn es giebt kein Mittleres
zwiſchen Zwang und Erwerb; und wenn der Menſch zu ſeinen
Handlungen gezwungen iſt, ſo gehört die Verantwortlichkeit in
die Kategorie des unmöglich zu Leiſtenden 2).“ Unter den chriſt-
lichen Theologen des erſten Zeitraumes mittelalterlichen Denkens
hat Anſelm unſere Antinomie in den folgenden zwei Widerſprüchen
dargeſtellt. Erſter Widerſpruch: „Vorauswiſſen Gottes und
freier Wille ſcheinen ſich zu widerſprechen. Denn dasjenige was
Gott vorausſieht, muß nothwendig in Zukunft eintreten, was aber
durch den freien Willen geſchieht, erfolgt mit keiner Nothwendig-
keit.“ Zweiter Widerſpruch: „Was Gott vorausbeſtimmt,
muß in der Zukunft eintreten. Wenn ſonach Gott das Gute und
Böſe was geſchieht, vorausbeſtimmt, ſo geſchieht nichts durch den
freien Willen;“ ſo heben ſich freier Wille und Vorausbeſtimmung
gegenſeitig auf 3).

Welche Diſtinktionen die theologiſche Metaphyſik auch in
Morgen- und Abendland gegen dieſe Antinomie aufgeboten hat:
innerhalb des Vorſtellungsſchemas und ſeiner Zerlegung und
Zuſammenſetzung durch den Verſtand giebt es kein Entrinnen.
Jedes freie Subjekt tritt als eine nicht bedingte Macht neben die
Macht Gottes. Wann alſo der Gedanke eines allmächtigen Willens
im Bewußtſein aufgeht, dann erlöſchen vor ihm, wie Sterne vor der
aufgehenden Sonne, alle Einzelwillen. In jedem Augenblick und
an jedem Punkte bedingt die Allmacht Gottes das Daſein und
den Beſtand des einzelnen Willens, und wo ſie zurückträte, da

1) In ſeiner ſpekulativen Dogmatik, vergl. Philoſophie und Theo-
logie des Averroes, überſetzt von Müller S. 45; ich citire unter dieſem Titel
und der Seitenzahl die beiden in der Uebertragung vereinten Abhand-
lungen: Harmonie der Religion und Philoſophie, und ſpekulative Dogmatik.
2) Philoſophie und Theologie des Averroes, überſ. v. Müller S. 98 ff.
3) Anſelm de concordia, quaest. I: Anfang; II: Anfang. Opp.
p. 507 A. 519 C
(Migne). — Dazu Sätze und Gegenſätze in Abälard, sic
et non c. 26—38. Opp. p. 1386 C
ff. (Migne).
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[357/0380] Formeln dieſer Antinomie. an einer anderen Stelle metaphyſiſch aus der Einheitlichkeit in der Welt bewieſen 1). Antitheſis: „Wenn wir aber annehmen, daß der Menſch ſeine Handlungen nicht erwirbt, ſo iſt nothwendig, daß er zu ihnen gezwungen iſt: denn es giebt kein Mittleres zwiſchen Zwang und Erwerb; und wenn der Menſch zu ſeinen Handlungen gezwungen iſt, ſo gehört die Verantwortlichkeit in die Kategorie des unmöglich zu Leiſtenden 2).“ Unter den chriſt- lichen Theologen des erſten Zeitraumes mittelalterlichen Denkens hat Anſelm unſere Antinomie in den folgenden zwei Widerſprüchen dargeſtellt. Erſter Widerſpruch: „Vorauswiſſen Gottes und freier Wille ſcheinen ſich zu widerſprechen. Denn dasjenige was Gott vorausſieht, muß nothwendig in Zukunft eintreten, was aber durch den freien Willen geſchieht, erfolgt mit keiner Nothwendig- keit.“ Zweiter Widerſpruch: „Was Gott vorausbeſtimmt, muß in der Zukunft eintreten. Wenn ſonach Gott das Gute und Böſe was geſchieht, vorausbeſtimmt, ſo geſchieht nichts durch den freien Willen;“ ſo heben ſich freier Wille und Vorausbeſtimmung gegenſeitig auf 3). Welche Diſtinktionen die theologiſche Metaphyſik auch in Morgen- und Abendland gegen dieſe Antinomie aufgeboten hat: innerhalb des Vorſtellungsſchemas und ſeiner Zerlegung und Zuſammenſetzung durch den Verſtand giebt es kein Entrinnen. Jedes freie Subjekt tritt als eine nicht bedingte Macht neben die Macht Gottes. Wann alſo der Gedanke eines allmächtigen Willens im Bewußtſein aufgeht, dann erlöſchen vor ihm, wie Sterne vor der aufgehenden Sonne, alle Einzelwillen. In jedem Augenblick und an jedem Punkte bedingt die Allmacht Gottes das Daſein und den Beſtand des einzelnen Willens, und wo ſie zurückträte, da 1) In ſeiner ſpekulativen Dogmatik, vergl. Philoſophie und Theo- logie des Averroes, überſetzt von Müller S. 45; ich citire unter dieſem Titel und der Seitenzahl die beiden in der Uebertragung vereinten Abhand- lungen: Harmonie der Religion und Philoſophie, und ſpekulative Dogmatik. 2) Philoſophie und Theologie des Averroes, überſ. v. Müller S. 98 ff. 3) Anſelm de concordia, quaest. I: Anfang; II: Anfang. Opp. p. 507 A. 519 C (Migne). — Dazu Sätze und Gegenſätze in Abälard, sic et non c. 26—38. Opp. p. 1386 C ff. (Migne).

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/380>, abgerufen am 22.11.2024.