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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
wenn auch noch so beschleunigten Hervortretens und zeitlichen
Gestaltens zu vollziehen. Daher stellt sich das religiöse Erleben
in den monotheistischen Religionen eben so in einer Vorstellungs-
welt dar, welche nur Gewand und Hülle, gleichsam Versinn-
lichung der inneren Erfahrungen
ist, wie dies in den
indogermanischen Religionen der Fall gewesen ist, aus deren my-
thischem Vorstellen der Welt wir die griechische Metaphysik her-
vorwachsen sahen 1). Und das Denken strebt nothwendiger Weise,
diese die religiöse Erfahrung versinnlichenden Vorstellungen aufzu-
klären, zu zergliedern und widerspruchslos zu ver-
binden
.

Hierbei trifft das dogmatische Denken überall auf Vorstellungs-
bestandtheile, welche dem Bilde der Außenwelt angehören. Und da
Christenthum, Heidenthum und Islam die Bearbeitung dieser
Elemente durch die erklärende Wissenschaft des Kosmos vor sich
hatten, mischten sich Begriffe aus dieser erklärenden Wissenschaft
in ihre Theologie ein. Daher hat sich die Entwicklung der Formeln,
welche die religiöse Erfahrung in einer Verknüpfung von Vor-
stellungen abgrenzen und gegen andere Formeln innerhalb der-
selben Religion wie gegen andere Religionen rechtfertigen sollten,
nicht folgerecht aus der im Christenthum gegebenen Selbstgewiß-
heit innerer Erfahrung vollzogen 2). Vielmehr mündete der ge-
waltige und frische Fluß dieser inneren Erfahrungen in den breiten,
trüben, Elemente verschiedenster Art mit sich führenden Strom
der abendländischen Metaphysik. Ein Synkretismus in der Me-
taphysik, wie er der Niederschlag der langen Entwicklung grie-
chisch-römischen Denkens war, schien dem religiösen Vorstellen die
Mittel darzubieten, sich in einem System zu formiren und als
solches zu behaupten. So entstand die christliche und ähnlich
bildete sich die jüdische und muhamedanische Theologie.

Und zwar stand die Aufgabe der Theologie nur eine einge-
schränkte Zeit hindurch bei den neueren Völkern in dem Mittel-

1) S. 169 ff.
2) Wie an Augustinus S. 326 ff. gezeigt ist.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
wenn auch noch ſo beſchleunigten Hervortretens und zeitlichen
Geſtaltens zu vollziehen. Daher ſtellt ſich das religiöſe Erleben
in den monotheiſtiſchen Religionen eben ſo in einer Vorſtellungs-
welt dar, welche nur Gewand und Hülle, gleichſam Verſinn-
lichung der inneren Erfahrungen
iſt, wie dies in den
indogermaniſchen Religionen der Fall geweſen iſt, aus deren my-
thiſchem Vorſtellen der Welt wir die griechiſche Metaphyſik her-
vorwachſen ſahen 1). Und das Denken ſtrebt nothwendiger Weiſe,
dieſe die religiöſe Erfahrung verſinnlichenden Vorſtellungen aufzu-
klären, zu zergliedern und widerſpruchslos zu ver-
binden
.

Hierbei trifft das dogmatiſche Denken überall auf Vorſtellungs-
beſtandtheile, welche dem Bilde der Außenwelt angehören. Und da
Chriſtenthum, Heidenthum und Islam die Bearbeitung dieſer
Elemente durch die erklärende Wiſſenſchaft des Kosmos vor ſich
hatten, miſchten ſich Begriffe aus dieſer erklärenden Wiſſenſchaft
in ihre Theologie ein. Daher hat ſich die Entwicklung der Formeln,
welche die religiöſe Erfahrung in einer Verknüpfung von Vor-
ſtellungen abgrenzen und gegen andere Formeln innerhalb der-
ſelben Religion wie gegen andere Religionen rechtfertigen ſollten,
nicht folgerecht aus der im Chriſtenthum gegebenen Selbſtgewiß-
heit innerer Erfahrung vollzogen 2). Vielmehr mündete der ge-
waltige und friſche Fluß dieſer inneren Erfahrungen in den breiten,
trüben, Elemente verſchiedenſter Art mit ſich führenden Strom
der abendländiſchen Metaphyſik. Ein Synkretismus in der Me-
taphyſik, wie er der Niederſchlag der langen Entwicklung grie-
chiſch-römiſchen Denkens war, ſchien dem religiöſen Vorſtellen die
Mittel darzubieten, ſich in einem Syſtem zu formiren und als
ſolches zu behaupten. So entſtand die chriſtliche und ähnlich
bildete ſich die jüdiſche und muhamedaniſche Theologie.

Und zwar ſtand die Aufgabe der Theologie nur eine einge-
ſchränkte Zeit hindurch bei den neueren Völkern in dem Mittel-

1) S. 169 ff.
2) Wie an Auguſtinus S. 326 ff. gezeigt iſt.
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[346/0369] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. wenn auch noch ſo beſchleunigten Hervortretens und zeitlichen Geſtaltens zu vollziehen. Daher ſtellt ſich das religiöſe Erleben in den monotheiſtiſchen Religionen eben ſo in einer Vorſtellungs- welt dar, welche nur Gewand und Hülle, gleichſam Verſinn- lichung der inneren Erfahrungen iſt, wie dies in den indogermaniſchen Religionen der Fall geweſen iſt, aus deren my- thiſchem Vorſtellen der Welt wir die griechiſche Metaphyſik her- vorwachſen ſahen 1). Und das Denken ſtrebt nothwendiger Weiſe, dieſe die religiöſe Erfahrung verſinnlichenden Vorſtellungen aufzu- klären, zu zergliedern und widerſpruchslos zu ver- binden. Hierbei trifft das dogmatiſche Denken überall auf Vorſtellungs- beſtandtheile, welche dem Bilde der Außenwelt angehören. Und da Chriſtenthum, Heidenthum und Islam die Bearbeitung dieſer Elemente durch die erklärende Wiſſenſchaft des Kosmos vor ſich hatten, miſchten ſich Begriffe aus dieſer erklärenden Wiſſenſchaft in ihre Theologie ein. Daher hat ſich die Entwicklung der Formeln, welche die religiöſe Erfahrung in einer Verknüpfung von Vor- ſtellungen abgrenzen und gegen andere Formeln innerhalb der- ſelben Religion wie gegen andere Religionen rechtfertigen ſollten, nicht folgerecht aus der im Chriſtenthum gegebenen Selbſtgewiß- heit innerer Erfahrung vollzogen 2). Vielmehr mündete der ge- waltige und friſche Fluß dieſer inneren Erfahrungen in den breiten, trüben, Elemente verſchiedenſter Art mit ſich führenden Strom der abendländiſchen Metaphyſik. Ein Synkretismus in der Me- taphyſik, wie er der Niederſchlag der langen Entwicklung grie- chiſch-römiſchen Denkens war, ſchien dem religiöſen Vorſtellen die Mittel darzubieten, ſich in einem Syſtem zu formiren und als ſolches zu behaupten. So entſtand die chriſtliche und ähnlich bildete ſich die jüdiſche und muhamedaniſche Theologie. Und zwar ſtand die Aufgabe der Theologie nur eine einge- ſchränkte Zeit hindurch bei den neueren Völkern in dem Mittel- 1) S. 169 ff. 2) Wie an Auguſtinus S. 326 ff. gezeigt iſt.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/369>, abgerufen am 25.11.2024.