geht, macht sich tiefer als vordem geltend, daß, was wir im Leben besitzen, nicht von dem Verstande in einen Zusammenhang ganz durchsichtiger Begriffe aufgelöst werden kann. Indem die Bedingungen der Natur mit denen der geschichtlichen Welt in Einem objektiven Zusammenhang verknüpft werden sollen, tritt der tiefe Widerspruch zwischen der Nothwendigkeit, die dem Gedankenmäßigen eigen ist, und der Freiheit, welche die Erfahrung des Willens ist, in den Mittelpunkt der Metaphysik: er zerreißt ihr Gewebe.
Doch vollzog diese zweite Epoche der Metaphysik zugleich einen bleibenden positiven Fortschritt in der euro- päischen intellektuellen Entwicklung, welcher dem modernen Men- schen und der freien Verbindung von Erkenntnißtheorie, Einzel- wissenschaft und religiösem Glauben erhalten bleibt. Zu dem schon Erwähnten tritt Folgendes hinzu. Im Alterthum hatte sich die Wissenschaft als ein unabhängiger Zweckzusammenhang ab- gesondert und war zur Selbständigkeit gelangt. In den großen In- stituten von Alexandria, in den anderen wissenschaftlichen Sammel- punkten des späteren Alterthums hatte sie auch eine äußere Or- ganisation erhalten, durch welche die Kontinuität positiver Leistungen ermöglicht wurde. So trat die Wissenschaft als ein die Völker umspannender Zusammenhang dem wechselnden und zerstückelten Staatsleben gegenüber. Die Macht und Souveränetät des christ- lichen Bewußtseins verkörperte sich nun während des Mittelalters in dem selbständigen Aufbau der katholischen Kirche, auf welche viele politische Ergebnisse des römischen Imperiums übertragen wurden. Wenn ihr die individuelle Freiheit des christlichen Bewußtseins zur Zeit geopfert wurde, so bereiteten doch die großen korporativen Ordnungen des Glaubens und Wissens eine Zukunft vor, in der bei innerer Freiheit des Seelenlebens die Differenzirung und äußere Gliederung der einzelnen Zweckzu- sammenhänge durchgeführt werden kann: eine Zukunft, die auch wir heute nur in unsicheren Umrissen erblicken. Alsdann unter- hielten das religiöse Leben und die Schulen der Mystik das Be- wußtsein, daß das meta-physische Wesen des Menschen in der
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
geht, macht ſich tiefer als vordem geltend, daß, was wir im Leben beſitzen, nicht von dem Verſtande in einen Zuſammenhang ganz durchſichtiger Begriffe aufgelöſt werden kann. Indem die Bedingungen der Natur mit denen der geſchichtlichen Welt in Einem objektiven Zuſammenhang verknüpft werden ſollen, tritt der tiefe Widerſpruch zwiſchen der Nothwendigkeit, die dem Gedankenmäßigen eigen iſt, und der Freiheit, welche die Erfahrung des Willens iſt, in den Mittelpunkt der Metaphyſik: er zerreißt ihr Gewebe.
Doch vollzog dieſe zweite Epoche der Metaphyſik zugleich einen bleibenden poſitiven Fortſchritt in der euro- päiſchen intellektuellen Entwicklung, welcher dem modernen Men- ſchen und der freien Verbindung von Erkenntnißtheorie, Einzel- wiſſenſchaft und religiöſem Glauben erhalten bleibt. Zu dem ſchon Erwähnten tritt Folgendes hinzu. Im Alterthum hatte ſich die Wiſſenſchaft als ein unabhängiger Zweckzuſammenhang ab- geſondert und war zur Selbſtändigkeit gelangt. In den großen In- ſtituten von Alexandria, in den anderen wiſſenſchaftlichen Sammel- punkten des ſpäteren Alterthums hatte ſie auch eine äußere Or- ganiſation erhalten, durch welche die Kontinuität poſitiver Leiſtungen ermöglicht wurde. So trat die Wiſſenſchaft als ein die Völker umſpannender Zuſammenhang dem wechſelnden und zerſtückelten Staatsleben gegenüber. Die Macht und Souveränetät des chriſt- lichen Bewußtſeins verkörperte ſich nun während des Mittelalters in dem ſelbſtändigen Aufbau der katholiſchen Kirche, auf welche viele politiſche Ergebniſſe des römiſchen Imperiums übertragen wurden. Wenn ihr die individuelle Freiheit des chriſtlichen Bewußtſeins zur Zeit geopfert wurde, ſo bereiteten doch die großen korporativen Ordnungen des Glaubens und Wiſſens eine Zukunft vor, in der bei innerer Freiheit des Seelenlebens die Differenzirung und äußere Gliederung der einzelnen Zweckzu- ſammenhänge durchgeführt werden kann: eine Zukunft, die auch wir heute nur in unſicheren Umriſſen erblicken. Alsdann unter- hielten das religiöſe Leben und die Schulen der Myſtik das Be- wußtſein, daß das meta-phyſiſche Weſen des Menſchen in der
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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
geht, macht ſich tiefer als vordem geltend, daß, was wir im
Leben beſitzen, nicht von dem Verſtande in einen Zuſammenhang
ganz durchſichtiger Begriffe aufgelöſt werden kann. Indem die
Bedingungen der Natur mit denen der geſchichtlichen Welt in
Einem objektiven Zuſammenhang verknüpft werden ſollen, tritt
der tiefe Widerſpruch zwiſchen der Nothwendigkeit, die
dem Gedankenmäßigen eigen iſt, und der Freiheit, welche die
Erfahrung des Willens iſt, in den Mittelpunkt der Metaphyſik:
er zerreißt ihr Gewebe.
Doch vollzog dieſe zweite Epoche der Metaphyſik zugleich
einen bleibenden poſitiven Fortſchritt in der euro-
päiſchen intellektuellen Entwicklung, welcher dem modernen Men-
ſchen und der freien Verbindung von Erkenntnißtheorie, Einzel-
wiſſenſchaft und religiöſem Glauben erhalten bleibt. Zu dem
ſchon Erwähnten tritt Folgendes hinzu. Im Alterthum hatte ſich
die Wiſſenſchaft als ein unabhängiger Zweckzuſammenhang ab-
geſondert und war zur Selbſtändigkeit gelangt. In den großen In-
ſtituten von Alexandria, in den anderen wiſſenſchaftlichen Sammel-
punkten des ſpäteren Alterthums hatte ſie auch eine äußere Or-
ganiſation erhalten, durch welche die Kontinuität poſitiver Leiſtungen
ermöglicht wurde. So trat die Wiſſenſchaft als ein die Völker
umſpannender Zuſammenhang dem wechſelnden und zerſtückelten
Staatsleben gegenüber. Die Macht und Souveränetät des chriſt-
lichen Bewußtſeins verkörperte ſich nun während des Mittelalters
in dem ſelbſtändigen Aufbau der katholiſchen Kirche, auf welche
viele politiſche Ergebniſſe des römiſchen Imperiums übertragen
wurden. Wenn ihr die individuelle Freiheit des chriſtlichen
Bewußtſeins zur Zeit geopfert wurde, ſo bereiteten doch die
großen korporativen Ordnungen des Glaubens und Wiſſens
eine Zukunft vor, in der bei innerer Freiheit des Seelenlebens
die Differenzirung und äußere Gliederung der einzelnen Zweckzu-
ſammenhänge durchgeführt werden kann: eine Zukunft, die auch
wir heute nur in unſicheren Umriſſen erblicken. Alsdann unter-
hielten das religiöſe Leben und die Schulen der Myſtik das Be-
wußtſein, daß das meta-phyſiſche Weſen des Menſchen in der
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/367>, abgerufen am 22.11.2024.
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