Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweites Buch. Dritter Abschnitt.

In dem Entwicklungsgang der romanisch-germanischen
Völker
, wie sie den Zusammenhang der europäischen Christen-
heit bildeten, hat sich die Metaphysik weit langsamer ausgelebt,
sie war der lange Jugendtraum dieser Nationen. Denn dieselben
befanden sich, als sie in die Erbschaft der Metaphysik ein-
traten, noch in ihrem Heldenzeitalter. Sie standen unter der
Leitung der Kirche und der Theologie. Die Vorstellungen von
psychischen Kräften, welche das Weltall durchwalten, waren für
sie, wie einst für die Griechen, der natürliche Ausdruck ihres der
mythischen Epoche des Vorstellens kaum entwachsenen Geistes.
Innerhalb der ihnen überlieferten Theologie bildeten sie sich aus
den Resten ihres mythischen Fühlens und Denkens und verwandten
Bestandtheilen, die sie bei den Alten fanden, eine reiche und
phantastische Welt, die von Heiligen, Wundergeschichten, bösem
Zauber, Geistern aller Art erfüllt war. Schwer lebten sie sich in die
vorhandene Metaphysik ein, wie sie in Aristoteles ihren Abschluß
gefunden hatte. Mit der Zeit erweiterte sich ihre Kenntniß des
Aristoteles; allmälig wuchsen ihnen die Kräfte abstrakten Denkens.
So entstand ein Ganzes, welches mit königlicher Gewalt über die
Gemüther herrschte. Zu keiner Zeit war die Macht der Metaphysik
so groß als in diesen Jahrhunderten, in denen sie mit der Theo-
logie und der Kirche verbunden war. Und in dieser Entwicklung
erlitt die aristotelische Metaphysik eine wesentliche Umgestaltung.
Elemente traten in der neuen Metaphysik hervor, die ihre Herr-
schaft unter den modernen Völkern lange behauptet haben und in
vielen Punkten sowie innerhalb weiter Strecken der europäischen
Bevölkerung noch heute behaupten. Denn die geschichtliche Lage
dieser neuen Völker gab ihnen neben vielen Nachtheilen auch
große Vortheile gegenüber den Alten. Die europäische Menschheit
hat nunmehr eine Vergangenheit hinter sich, die abgeschlossen ist.
Ganze Völker und Staaten haben ausgelebt auf dem Boden, wo
eine neue Welt sich eingerichtet hat. Sie haben in derselben
römischen Sprache, die noch herrscht, gesprochen, und in die Literatur
dieser Sprache ist auch das Wichtigste der griechischen Entwicklung
gerettet. Andrerseits aber fanden sich diese jungen germanisch-

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.

In dem Entwicklungsgang der romaniſch-germaniſchen
Völker
, wie ſie den Zuſammenhang der europäiſchen Chriſten-
heit bildeten, hat ſich die Metaphyſik weit langſamer ausgelebt,
ſie war der lange Jugendtraum dieſer Nationen. Denn dieſelben
befanden ſich, als ſie in die Erbſchaft der Metaphyſik ein-
traten, noch in ihrem Heldenzeitalter. Sie ſtanden unter der
Leitung der Kirche und der Theologie. Die Vorſtellungen von
pſychiſchen Kräften, welche das Weltall durchwalten, waren für
ſie, wie einſt für die Griechen, der natürliche Ausdruck ihres der
mythiſchen Epoche des Vorſtellens kaum entwachſenen Geiſtes.
Innerhalb der ihnen überlieferten Theologie bildeten ſie ſich aus
den Reſten ihres mythiſchen Fühlens und Denkens und verwandten
Beſtandtheilen, die ſie bei den Alten fanden, eine reiche und
phantaſtiſche Welt, die von Heiligen, Wundergeſchichten, böſem
Zauber, Geiſtern aller Art erfüllt war. Schwer lebten ſie ſich in die
vorhandene Metaphyſik ein, wie ſie in Ariſtoteles ihren Abſchluß
gefunden hatte. Mit der Zeit erweiterte ſich ihre Kenntniß des
Ariſtoteles; allmälig wuchſen ihnen die Kräfte abſtrakten Denkens.
So entſtand ein Ganzes, welches mit königlicher Gewalt über die
Gemüther herrſchte. Zu keiner Zeit war die Macht der Metaphyſik
ſo groß als in dieſen Jahrhunderten, in denen ſie mit der Theo-
logie und der Kirche verbunden war. Und in dieſer Entwicklung
erlitt die ariſtoteliſche Metaphyſik eine weſentliche Umgeſtaltung.
Elemente traten in der neuen Metaphyſik hervor, die ihre Herr-
ſchaft unter den modernen Völkern lange behauptet haben und in
vielen Punkten ſowie innerhalb weiter Strecken der europäiſchen
Bevölkerung noch heute behaupten. Denn die geſchichtliche Lage
dieſer neuen Völker gab ihnen neben vielen Nachtheilen auch
große Vortheile gegenüber den Alten. Die europäiſche Menſchheit
hat nunmehr eine Vergangenheit hinter ſich, die abgeſchloſſen iſt.
Ganze Völker und Staaten haben ausgelebt auf dem Boden, wo
eine neue Welt ſich eingerichtet hat. Sie haben in derſelben
römiſchen Sprache, die noch herrſcht, geſprochen, und in die Literatur
dieſer Sprache iſt auch das Wichtigſte der griechiſchen Entwicklung
gerettet. Andrerſeits aber fanden ſich dieſe jungen germaniſch-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0363" n="340"/>
            <fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
            <p>In dem Entwicklungsgang der <hi rendition="#g">romani&#x017F;ch-germani&#x017F;chen<lb/>
Völker</hi>, wie &#x017F;ie den Zu&#x017F;ammenhang der europäi&#x017F;chen Chri&#x017F;ten-<lb/>
heit bildeten, hat &#x017F;ich die Metaphy&#x017F;ik weit lang&#x017F;amer ausgelebt,<lb/>
&#x017F;ie war der lange Jugendtraum die&#x017F;er Nationen. Denn die&#x017F;elben<lb/>
befanden &#x017F;ich, als &#x017F;ie in die Erb&#x017F;chaft der Metaphy&#x017F;ik ein-<lb/>
traten, noch in ihrem Heldenzeitalter. Sie &#x017F;tanden unter der<lb/>
Leitung der Kirche und der Theologie. Die Vor&#x017F;tellungen von<lb/>
p&#x017F;ychi&#x017F;chen Kräften, welche das Weltall durchwalten, waren für<lb/>
&#x017F;ie, wie ein&#x017F;t für die Griechen, der natürliche Ausdruck ihres der<lb/>
mythi&#x017F;chen Epoche des Vor&#x017F;tellens kaum entwach&#x017F;enen Gei&#x017F;tes.<lb/>
Innerhalb der ihnen überlieferten Theologie bildeten &#x017F;ie &#x017F;ich aus<lb/>
den Re&#x017F;ten ihres mythi&#x017F;chen Fühlens und Denkens und verwandten<lb/>
Be&#x017F;tandtheilen, die &#x017F;ie bei den Alten fanden, eine reiche und<lb/>
phanta&#x017F;ti&#x017F;che Welt, die von Heiligen, Wunderge&#x017F;chichten, bö&#x017F;em<lb/>
Zauber, Gei&#x017F;tern aller Art erfüllt war. Schwer lebten &#x017F;ie &#x017F;ich in die<lb/>
vorhandene Metaphy&#x017F;ik ein, wie &#x017F;ie in Ari&#x017F;toteles ihren Ab&#x017F;chluß<lb/>
gefunden hatte. Mit der Zeit erweiterte &#x017F;ich ihre Kenntniß des<lb/>
Ari&#x017F;toteles; allmälig wuch&#x017F;en ihnen die Kräfte ab&#x017F;trakten Denkens.<lb/>
So ent&#x017F;tand ein Ganzes, welches mit königlicher Gewalt über die<lb/>
Gemüther herr&#x017F;chte. Zu keiner Zeit war die Macht der Metaphy&#x017F;ik<lb/>
&#x017F;o groß als in die&#x017F;en Jahrhunderten, in denen &#x017F;ie mit der Theo-<lb/>
logie und der Kirche verbunden war. Und in die&#x017F;er Entwicklung<lb/>
erlitt die ari&#x017F;toteli&#x017F;che Metaphy&#x017F;ik eine we&#x017F;entliche Umge&#x017F;taltung.<lb/>
Elemente traten in der neuen Metaphy&#x017F;ik hervor, die ihre Herr-<lb/>
&#x017F;chaft unter den modernen Völkern lange behauptet haben und in<lb/>
vielen Punkten &#x017F;owie innerhalb weiter Strecken der europäi&#x017F;chen<lb/>
Bevölkerung noch heute behaupten. Denn die ge&#x017F;chichtliche Lage<lb/>
die&#x017F;er neuen Völker gab ihnen neben vielen Nachtheilen auch<lb/>
große Vortheile gegenüber den Alten. Die europäi&#x017F;che Men&#x017F;chheit<lb/>
hat nunmehr eine Vergangenheit hinter &#x017F;ich, die abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.<lb/>
Ganze Völker und Staaten haben ausgelebt auf dem Boden, wo<lb/>
eine neue Welt &#x017F;ich eingerichtet hat. Sie haben in der&#x017F;elben<lb/>
römi&#x017F;chen Sprache, die noch herr&#x017F;cht, ge&#x017F;prochen, und in die Literatur<lb/>
die&#x017F;er Sprache i&#x017F;t auch das Wichtig&#x017F;te der griechi&#x017F;chen Entwicklung<lb/>
gerettet. Andrer&#x017F;eits aber fanden &#x017F;ich die&#x017F;e jungen germani&#x017F;ch-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0363] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. In dem Entwicklungsgang der romaniſch-germaniſchen Völker, wie ſie den Zuſammenhang der europäiſchen Chriſten- heit bildeten, hat ſich die Metaphyſik weit langſamer ausgelebt, ſie war der lange Jugendtraum dieſer Nationen. Denn dieſelben befanden ſich, als ſie in die Erbſchaft der Metaphyſik ein- traten, noch in ihrem Heldenzeitalter. Sie ſtanden unter der Leitung der Kirche und der Theologie. Die Vorſtellungen von pſychiſchen Kräften, welche das Weltall durchwalten, waren für ſie, wie einſt für die Griechen, der natürliche Ausdruck ihres der mythiſchen Epoche des Vorſtellens kaum entwachſenen Geiſtes. Innerhalb der ihnen überlieferten Theologie bildeten ſie ſich aus den Reſten ihres mythiſchen Fühlens und Denkens und verwandten Beſtandtheilen, die ſie bei den Alten fanden, eine reiche und phantaſtiſche Welt, die von Heiligen, Wundergeſchichten, böſem Zauber, Geiſtern aller Art erfüllt war. Schwer lebten ſie ſich in die vorhandene Metaphyſik ein, wie ſie in Ariſtoteles ihren Abſchluß gefunden hatte. Mit der Zeit erweiterte ſich ihre Kenntniß des Ariſtoteles; allmälig wuchſen ihnen die Kräfte abſtrakten Denkens. So entſtand ein Ganzes, welches mit königlicher Gewalt über die Gemüther herrſchte. Zu keiner Zeit war die Macht der Metaphyſik ſo groß als in dieſen Jahrhunderten, in denen ſie mit der Theo- logie und der Kirche verbunden war. Und in dieſer Entwicklung erlitt die ariſtoteliſche Metaphyſik eine weſentliche Umgeſtaltung. Elemente traten in der neuen Metaphyſik hervor, die ihre Herr- ſchaft unter den modernen Völkern lange behauptet haben und in vielen Punkten ſowie innerhalb weiter Strecken der europäiſchen Bevölkerung noch heute behaupten. Denn die geſchichtliche Lage dieſer neuen Völker gab ihnen neben vielen Nachtheilen auch große Vortheile gegenüber den Alten. Die europäiſche Menſchheit hat nunmehr eine Vergangenheit hinter ſich, die abgeſchloſſen iſt. Ganze Völker und Staaten haben ausgelebt auf dem Boden, wo eine neue Welt ſich eingerichtet hat. Sie haben in derſelben römiſchen Sprache, die noch herrſcht, geſprochen, und in die Literatur dieſer Sprache iſt auch das Wichtigſte der griechiſchen Entwicklung gerettet. Andrerſeits aber fanden ſich dieſe jungen germaniſch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/363
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/363>, abgerufen am 25.11.2024.