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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Macht d. Darstellung innerer Erfahr. u. Mangel ihrer Zergliederung.
Imagination des vollen Lebens. So bezeichnet er, was dem
Zweifel als unantastbar zurückbleibt, nicht ausschließlich als
Denken, sondern auch als Leben. Hierin drückt sich seine Natur
im Unterschied von der eines Descartes aus. Er möchte aus-
sprechen, was in dem Lebensdrang, von welchem seine affektive
Natur bewegt ist, enthalten sei. Er zuerst hatte das Bedürfniß
und die Kühnheit, seine Geschichte, wie sie aus diesem Lebens-
drang entsprungen ist und das innere Schicksal desselben abspiegelt,
hinzustellen. Wie ein ungebundenes mächtiges Naturelement war
er durch die Welt gegangen, unaufgehalten von konventionellen Ein-
schränkungen, ein gewaltiger Mensch: er hatte immer gelebt, was
er gedacht hatte. Die Konfessionen haben dem Mittelalter sein Bild
eingeprägt: ein glühendes Herz, das in Gott allein Ruhe findet.
Er rang andrerseits, in einer allgemeinen psychologischen Deskrip-
tion den dunklen Trieb nach Glückseligkeit in seinen wesenhaften
Zügen auszudrücken, er ging ihm nach durch die Dämmerung des
Bewußtseins, in welcher er webt, in das Reich der Illusionen,
die hieraus entspringen, bis dieser Drang sich an die schöne Ge-
staltenwelt Gottes verliert, doch immer von dem Bewußtsein be-
gleitet, daß der Wechsel der so entstehenden Zustände nicht das
erreichte höchste Gut ist 1). Endlich kehren seine Schriften im
Einzelnen immer wieder zum Nachempfinden und Grübeln über
Seelenzustände zurück. Sie haben tiefsinnig dem Zusammenhang
von psychischen Thatsachen, welche bis dahin vorwiegend aus dem
Vorstellungsleben erklärt worden waren, mit dem Willen, mit
dem ganzen Menschen nachgespürt; man vergleiche seine feinsinnigen
Erörterungen über die Sinne 2), über das dunkle Leben des
Willens im Kinde 3), seine Beobachtungen und Spekulationen über
die durchgreifende Bedeutung des Rhythmus im geistigen Leben 4).
Dem entsprechend haben seine Schriften ferner Begriffe, welche bis
dahin in der Metaphysik abstrakt behandelt und in Vorstellungs-

1) Vgl. den Exkurs in seiner Selbstbiographie confess. VII c. 10--15.
2) Augustinus de libero arbitrio II c. 3 ff.
3) Confess. I c. 6.
4) De musica, besonders im sechsten Buche.

Macht d. Darſtellung innerer Erfahr. u. Mangel ihrer Zergliederung.
Imagination des vollen Lebens. So bezeichnet er, was dem
Zweifel als unantaſtbar zurückbleibt, nicht ausſchließlich als
Denken, ſondern auch als Leben. Hierin drückt ſich ſeine Natur
im Unterſchied von der eines Descartes aus. Er möchte aus-
ſprechen, was in dem Lebensdrang, von welchem ſeine affektive
Natur bewegt iſt, enthalten ſei. Er zuerſt hatte das Bedürfniß
und die Kühnheit, ſeine Geſchichte, wie ſie aus dieſem Lebens-
drang entſprungen iſt und das innere Schickſal deſſelben abſpiegelt,
hinzuſtellen. Wie ein ungebundenes mächtiges Naturelement war
er durch die Welt gegangen, unaufgehalten von konventionellen Ein-
ſchränkungen, ein gewaltiger Menſch: er hatte immer gelebt, was
er gedacht hatte. Die Konfeſſionen haben dem Mittelalter ſein Bild
eingeprägt: ein glühendes Herz, das in Gott allein Ruhe findet.
Er rang andrerſeits, in einer allgemeinen pſychologiſchen Deſkrip-
tion den dunklen Trieb nach Glückſeligkeit in ſeinen weſenhaften
Zügen auszudrücken, er ging ihm nach durch die Dämmerung des
Bewußtſeins, in welcher er webt, in das Reich der Illuſionen,
die hieraus entſpringen, bis dieſer Drang ſich an die ſchöne Ge-
ſtaltenwelt Gottes verliert, doch immer von dem Bewußtſein be-
gleitet, daß der Wechſel der ſo entſtehenden Zuſtände nicht das
erreichte höchſte Gut iſt 1). Endlich kehren ſeine Schriften im
Einzelnen immer wieder zum Nachempfinden und Grübeln über
Seelenzuſtände zurück. Sie haben tiefſinnig dem Zuſammenhang
von pſychiſchen Thatſachen, welche bis dahin vorwiegend aus dem
Vorſtellungsleben erklärt worden waren, mit dem Willen, mit
dem ganzen Menſchen nachgeſpürt; man vergleiche ſeine feinſinnigen
Erörterungen über die Sinne 2), über das dunkle Leben des
Willens im Kinde 3), ſeine Beobachtungen und Spekulationen über
die durchgreifende Bedeutung des Rhythmus im geiſtigen Leben 4).
Dem entſprechend haben ſeine Schriften ferner Begriffe, welche bis
dahin in der Metaphyſik abſtrakt behandelt und in Vorſtellungs-

1) Vgl. den Exkurs in ſeiner Selbſtbiographie confess. VII c. 10—15.
2) Auguſtinus de libero arbitrio II c. 3 ff.
3) Confess. I c. 6.
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[335/0358] Macht d. Darſtellung innerer Erfahr. u. Mangel ihrer Zergliederung. Imagination des vollen Lebens. So bezeichnet er, was dem Zweifel als unantaſtbar zurückbleibt, nicht ausſchließlich als Denken, ſondern auch als Leben. Hierin drückt ſich ſeine Natur im Unterſchied von der eines Descartes aus. Er möchte aus- ſprechen, was in dem Lebensdrang, von welchem ſeine affektive Natur bewegt iſt, enthalten ſei. Er zuerſt hatte das Bedürfniß und die Kühnheit, ſeine Geſchichte, wie ſie aus dieſem Lebens- drang entſprungen iſt und das innere Schickſal deſſelben abſpiegelt, hinzuſtellen. Wie ein ungebundenes mächtiges Naturelement war er durch die Welt gegangen, unaufgehalten von konventionellen Ein- ſchränkungen, ein gewaltiger Menſch: er hatte immer gelebt, was er gedacht hatte. Die Konfeſſionen haben dem Mittelalter ſein Bild eingeprägt: ein glühendes Herz, das in Gott allein Ruhe findet. Er rang andrerſeits, in einer allgemeinen pſychologiſchen Deſkrip- tion den dunklen Trieb nach Glückſeligkeit in ſeinen weſenhaften Zügen auszudrücken, er ging ihm nach durch die Dämmerung des Bewußtſeins, in welcher er webt, in das Reich der Illuſionen, die hieraus entſpringen, bis dieſer Drang ſich an die ſchöne Ge- ſtaltenwelt Gottes verliert, doch immer von dem Bewußtſein be- gleitet, daß der Wechſel der ſo entſtehenden Zuſtände nicht das erreichte höchſte Gut iſt 1). Endlich kehren ſeine Schriften im Einzelnen immer wieder zum Nachempfinden und Grübeln über Seelenzuſtände zurück. Sie haben tiefſinnig dem Zuſammenhang von pſychiſchen Thatſachen, welche bis dahin vorwiegend aus dem Vorſtellungsleben erklärt worden waren, mit dem Willen, mit dem ganzen Menſchen nachgeſpürt; man vergleiche ſeine feinſinnigen Erörterungen über die Sinne 2), über das dunkle Leben des Willens im Kinde 3), ſeine Beobachtungen und Spekulationen über die durchgreifende Bedeutung des Rhythmus im geiſtigen Leben 4). Dem entſprechend haben ſeine Schriften ferner Begriffe, welche bis dahin in der Metaphyſik abſtrakt behandelt und in Vorſtellungs- 1) Vgl. den Exkurs in ſeiner Selbſtbiographie confess. VII c. 10—15. 2) Auguſtinus de libero arbitrio II c. 3 ff. 3) Confess. I c. 6. 4) De musica, beſonders im ſechſten Buche.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/358>, abgerufen am 23.11.2024.