Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
von den an sich gewissen Wahrheiten, ganz ähnlich wie später in
dem des Descartes. Und zwar ist dieser Fortgang von der
Selbstgewißheit zu den an sich gewissen Wahrheiten
in den ersten grundlegenden Schriften ausführlich dargestellt. --
Wir entwickeln zunächst das erste Glied des dort vorliegenden
Schlußverfahrens. Ich finde in meinem Zweifel selbst einen
Maßstab, vermittelst dessen ich Wahres von Falschem unterscheide.
Der deutlichste Fall von Anwendung eines solches Maßstabs ist
das Denkgesetz des Widerspruchs. Und zwar ist dies Gesetz ein
Glied aus einem System von Gesetzen der Wahrheit. Dieses
System, welches als "Wahrheit" bezeichnet werden kann, ist un-
veränderlich. Ihm gehören die Zahlen und ihre Verhältnisse an,
alsdann Gleichheit und Aehnlichkeit, vor Allem die Einheit; denn
die Einheit kann in keiner sinnlichen Wahrnehmung gegeben sein, sie
findet sich nicht an den Körpern, sondern wird vielmehr von
unserem Denken ihnen abgesprochen, sonach ist sie dem Denken
eigen. -- Obwol dieses erste Glied des Schlußverfahrens von der
Erfahrung der Realität in uns ausgeht, zeigt es doch bereits
die Macht der vererbten insbesondere neuplatonischen Gedanken-
massen über das stürmische und ungleiche Genie des Augustinus.
Denn es benutzt die psychische Realität, die lebendige Erfahrung
nur als Ausgangspunkt, um die apriorischen Abstrakta zu erreichen,
welche die metaphysische Vernunftwissenschaft entwickelt hatte. Die
verhängnißvolle Verkehrung des wahren Thatbestandes dauert
fort, nach welcher dies Abstrakte das im Geiste Erste ist, und
sonach ist nicht zu vermeiden, daß es auch in dem aufzustellenden
objektiven Zusammenhang das Erste sein wird. -- Von diesem
ersten Gliede gelangen wir zu dem zweiten der Beweisführung.
Augustinus denkt weiter mit den Platonikern. Dieses System der
Wahrheiten wird von der Vernunftthätigkeit aufgefaßt, welche ein Er-
blicken rein geistiger Art ist. Die Seele erschaut durch sich, nicht
vermittelst des Körpers und seiner Sinnesorgane, das Wahre. Es
besteht eine "Verbindung des erschauenden Geistes und des
Wahren, welches er erschaut." Wir sind wieder mitten in der
Metaphysik Platos, die wir hinter uns gelassen zu haben glaubten.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
von den an ſich gewiſſen Wahrheiten, ganz ähnlich wie ſpäter in
dem des Descartes. Und zwar iſt dieſer Fortgang von der
Selbſtgewißheit zu den an ſich gewiſſen Wahrheiten
in den erſten grundlegenden Schriften ausführlich dargeſtellt. —
Wir entwickeln zunächſt das erſte Glied des dort vorliegenden
Schlußverfahrens. Ich finde in meinem Zweifel ſelbſt einen
Maßſtab, vermittelſt deſſen ich Wahres von Falſchem unterſcheide.
Der deutlichſte Fall von Anwendung eines ſolches Maßſtabs iſt
das Denkgeſetz des Widerſpruchs. Und zwar iſt dies Geſetz ein
Glied aus einem Syſtem von Geſetzen der Wahrheit. Dieſes
Syſtem, welches als „Wahrheit“ bezeichnet werden kann, iſt un-
veränderlich. Ihm gehören die Zahlen und ihre Verhältniſſe an,
alsdann Gleichheit und Aehnlichkeit, vor Allem die Einheit; denn
die Einheit kann in keiner ſinnlichen Wahrnehmung gegeben ſein, ſie
findet ſich nicht an den Körpern, ſondern wird vielmehr von
unſerem Denken ihnen abgeſprochen, ſonach iſt ſie dem Denken
eigen. — Obwol dieſes erſte Glied des Schlußverfahrens von der
Erfahrung der Realität in uns ausgeht, zeigt es doch bereits
die Macht der vererbten insbeſondere neuplatoniſchen Gedanken-
maſſen über das ſtürmiſche und ungleiche Genie des Auguſtinus.
Denn es benutzt die pſychiſche Realität, die lebendige Erfahrung
nur als Ausgangspunkt, um die aprioriſchen Abſtrakta zu erreichen,
welche die metaphyſiſche Vernunftwiſſenſchaft entwickelt hatte. Die
verhängnißvolle Verkehrung des wahren Thatbeſtandes dauert
fort, nach welcher dies Abſtrakte das im Geiſte Erſte iſt, und
ſonach iſt nicht zu vermeiden, daß es auch in dem aufzuſtellenden
objektiven Zuſammenhang das Erſte ſein wird. — Von dieſem
erſten Gliede gelangen wir zu dem zweiten der Beweisführung.
Auguſtinus denkt weiter mit den Platonikern. Dieſes Syſtem der
Wahrheiten wird von der Vernunftthätigkeit aufgefaßt, welche ein Er-
blicken rein geiſtiger Art iſt. Die Seele erſchaut durch ſich, nicht
vermittelſt des Körpers und ſeiner Sinnesorgane, das Wahre. Es
beſteht eine „Verbindung des erſchauenden Geiſtes und des
Wahren, welches er erſchaut.“ Wir ſind wieder mitten in der
Metaphyſik Platos, die wir hinter uns gelaſſen zu haben glaubten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0353" n="330"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
von den an &#x017F;ich gewi&#x017F;&#x017F;en Wahrheiten, ganz ähnlich wie &#x017F;päter in<lb/>
dem des Descartes. Und zwar i&#x017F;t die&#x017F;er <hi rendition="#g">Fortgang</hi> von der<lb/><hi rendition="#g">Selb&#x017F;tgewißheit</hi> zu den <hi rendition="#g">an &#x017F;ich gewi&#x017F;&#x017F;en Wahrheiten</hi><lb/>
in den er&#x017F;ten grundlegenden Schriften ausführlich darge&#x017F;tellt. &#x2014;<lb/>
Wir entwickeln zunäch&#x017F;t das er&#x017F;te Glied des dort vorliegenden<lb/>
Schlußverfahrens. Ich finde in meinem Zweifel &#x017F;elb&#x017F;t einen<lb/>
Maß&#x017F;tab, vermittel&#x017F;t de&#x017F;&#x017F;en ich Wahres von Fal&#x017F;chem unter&#x017F;cheide.<lb/>
Der deutlich&#x017F;te Fall von Anwendung eines &#x017F;olches Maß&#x017F;tabs i&#x017F;t<lb/>
das Denkge&#x017F;etz des Wider&#x017F;pruchs. Und zwar i&#x017F;t dies Ge&#x017F;etz ein<lb/>
Glied aus einem Sy&#x017F;tem von Ge&#x017F;etzen der Wahrheit. Die&#x017F;es<lb/>
Sy&#x017F;tem, welches als &#x201E;Wahrheit&#x201C; bezeichnet werden kann, i&#x017F;t un-<lb/>
veränderlich. Ihm gehören die Zahlen und ihre Verhältni&#x017F;&#x017F;e an,<lb/>
alsdann Gleichheit und Aehnlichkeit, vor Allem die Einheit; denn<lb/>
die Einheit kann in keiner &#x017F;innlichen Wahrnehmung gegeben &#x017F;ein, &#x017F;ie<lb/>
findet &#x017F;ich nicht an den Körpern, &#x017F;ondern wird vielmehr von<lb/>
un&#x017F;erem Denken ihnen abge&#x017F;prochen, &#x017F;onach i&#x017F;t &#x017F;ie dem Denken<lb/>
eigen. &#x2014; Obwol die&#x017F;es er&#x017F;te Glied des Schlußverfahrens von der<lb/>
Erfahrung der Realität in uns ausgeht, zeigt es doch bereits<lb/>
die Macht der vererbten insbe&#x017F;ondere neuplatoni&#x017F;chen Gedanken-<lb/>
ma&#x017F;&#x017F;en über das &#x017F;türmi&#x017F;che und ungleiche Genie des Augu&#x017F;tinus.<lb/>
Denn es benutzt die p&#x017F;ychi&#x017F;che Realität, die lebendige Erfahrung<lb/>
nur als Ausgangspunkt, um die apriori&#x017F;chen Ab&#x017F;trakta zu erreichen,<lb/>
welche die metaphy&#x017F;i&#x017F;che Vernunftwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft entwickelt hatte. Die<lb/>
verhängnißvolle Verkehrung des wahren Thatbe&#x017F;tandes dauert<lb/>
fort, nach welcher dies Ab&#x017F;trakte das im Gei&#x017F;te Er&#x017F;te i&#x017F;t, und<lb/>
&#x017F;onach i&#x017F;t nicht zu vermeiden, daß es auch in dem aufzu&#x017F;tellenden<lb/>
objektiven Zu&#x017F;ammenhang das Er&#x017F;te &#x017F;ein wird. &#x2014; Von die&#x017F;em<lb/>
er&#x017F;ten Gliede gelangen wir zu dem zweiten der Beweisführung.<lb/>
Augu&#x017F;tinus denkt weiter mit den Platonikern. Die&#x017F;es Sy&#x017F;tem der<lb/>
Wahrheiten wird von der Vernunftthätigkeit aufgefaßt, welche ein Er-<lb/>
blicken rein gei&#x017F;tiger Art i&#x017F;t. Die Seele er&#x017F;chaut durch &#x017F;ich, nicht<lb/>
vermittel&#x017F;t des Körpers und &#x017F;einer Sinnesorgane, das Wahre. Es<lb/>
be&#x017F;teht eine &#x201E;Verbindung des er&#x017F;chauenden Gei&#x017F;tes und des<lb/>
Wahren, welches er er&#x017F;chaut.&#x201C; Wir &#x017F;ind wieder mitten in der<lb/>
Metaphy&#x017F;ik Platos, die wir hinter uns gela&#x017F;&#x017F;en zu haben glaubten.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[330/0353] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. von den an ſich gewiſſen Wahrheiten, ganz ähnlich wie ſpäter in dem des Descartes. Und zwar iſt dieſer Fortgang von der Selbſtgewißheit zu den an ſich gewiſſen Wahrheiten in den erſten grundlegenden Schriften ausführlich dargeſtellt. — Wir entwickeln zunächſt das erſte Glied des dort vorliegenden Schlußverfahrens. Ich finde in meinem Zweifel ſelbſt einen Maßſtab, vermittelſt deſſen ich Wahres von Falſchem unterſcheide. Der deutlichſte Fall von Anwendung eines ſolches Maßſtabs iſt das Denkgeſetz des Widerſpruchs. Und zwar iſt dies Geſetz ein Glied aus einem Syſtem von Geſetzen der Wahrheit. Dieſes Syſtem, welches als „Wahrheit“ bezeichnet werden kann, iſt un- veränderlich. Ihm gehören die Zahlen und ihre Verhältniſſe an, alsdann Gleichheit und Aehnlichkeit, vor Allem die Einheit; denn die Einheit kann in keiner ſinnlichen Wahrnehmung gegeben ſein, ſie findet ſich nicht an den Körpern, ſondern wird vielmehr von unſerem Denken ihnen abgeſprochen, ſonach iſt ſie dem Denken eigen. — Obwol dieſes erſte Glied des Schlußverfahrens von der Erfahrung der Realität in uns ausgeht, zeigt es doch bereits die Macht der vererbten insbeſondere neuplatoniſchen Gedanken- maſſen über das ſtürmiſche und ungleiche Genie des Auguſtinus. Denn es benutzt die pſychiſche Realität, die lebendige Erfahrung nur als Ausgangspunkt, um die aprioriſchen Abſtrakta zu erreichen, welche die metaphyſiſche Vernunftwiſſenſchaft entwickelt hatte. Die verhängnißvolle Verkehrung des wahren Thatbeſtandes dauert fort, nach welcher dies Abſtrakte das im Geiſte Erſte iſt, und ſonach iſt nicht zu vermeiden, daß es auch in dem aufzuſtellenden objektiven Zuſammenhang das Erſte ſein wird. — Von dieſem erſten Gliede gelangen wir zu dem zweiten der Beweisführung. Auguſtinus denkt weiter mit den Platonikern. Dieſes Syſtem der Wahrheiten wird von der Vernunftthätigkeit aufgefaßt, welche ein Er- blicken rein geiſtiger Art iſt. Die Seele erſchaut durch ſich, nicht vermittelſt des Körpers und ſeiner Sinnesorgane, das Wahre. Es beſteht eine „Verbindung des erſchauenden Geiſtes und des Wahren, welches er erſchaut.“ Wir ſind wieder mitten in der Metaphyſik Platos, die wir hinter uns gelaſſen zu haben glaubten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/353
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/353>, abgerufen am 25.11.2024.