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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Andere im Christenthum gelegene Keime einer veränderten Wissenschaft.
Menschheit. Die Philosophie des hellenistischen Judenthums, wie
sie Philo ausgebildet hat, die Gnosis, der Neuplatonismus als
die philosophische Restauration des Götterglaubens und die Philo-
sophie der Kirchenväter haben die Grundzüge einer Weltformel
gemeinsam, welcher noch Spinozas und Schopenhauer's System
die einfache Geschlossenheit ihres Aufbaus verdanken. In dieser
Formel verschlingen sich bereits Natur und Geschichte. Aus
der Gottheit leitet dieselbe die Entstehung des Endlichen als
eines Unvollkommenen und der Veränderlichkeit Anheimgegebenen
ab und zeigt alsdann die Rückkehr dieses Endlichen in Gott. So
ist der Ausgangspunkt dieser Metaphysik die im religiösen Er-
lebniß ergriffene Gottheit, ihr Problem ist der Hervorgang des
Endlichen in seinem angegebenen Charakter; dieser Hervorgang
erscheint als ein lebendiger psychischer Proceß, in welchem dann
auch die arme Gebrechlichkeit des Menschenlebens entspringt: bis
in einem gleichsam inversen Verlauf die Rückkehr in die Gottheit
sich vollzieht.

Die Philosophie des Judenthums entwickelte sich zuerst, die
des Heidenthums folgte: über beide erhob sich siegreich die Philo-
sophie des Christenthums
. Denn sie trug eine macht-
volle geschichtliche Realität in sich; eine Realität, die sich
mit dem innersten Kerne jeder Wirklichkeit, die geschichtlich vorher
da war, im Seelenleben berührte und sie in ihrem innern Rapport
zu sich empfand. Vor dieser verwehten die Ekstasen und Schau-
ungen wie Sommerfäden im Winde. Indem das Christenthum
um den Sieg rang, ward in dem Kampfe der Religionen das
Dogma zu der abschließenden Fassung gebracht, daß Gott, im
Gegensatz zu allen partialen Offenbarungen, welche Juden und
Heiden in Anspruch nahmen, ganz und ohne Rest in die Offen-
barung durch Christus mit seinem Wesen eingegangen sei. Sonach
wurden alle früheren Offenbarungen dieser als Vorstufen unter-
geordnet. Damit ward nun Gottes Wesen, im Gegensatz gegen
seine Fassung in dem in sich geschlossenen Substanzbegriff des Alter-
thums, in geschichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und so entstand,

Andere im Chriſtenthum gelegene Keime einer veränderten Wiſſenſchaft.
Menſchheit. Die Philoſophie des helleniſtiſchen Judenthums, wie
ſie Philo ausgebildet hat, die Gnoſis, der Neuplatonismus als
die philoſophiſche Reſtauration des Götterglaubens und die Philo-
ſophie der Kirchenväter haben die Grundzüge einer Weltformel
gemeinſam, welcher noch Spinozas und Schopenhauer’s Syſtem
die einfache Geſchloſſenheit ihres Aufbaus verdanken. In dieſer
Formel verſchlingen ſich bereits Natur und Geſchichte. Aus
der Gottheit leitet dieſelbe die Entſtehung des Endlichen als
eines Unvollkommenen und der Veränderlichkeit Anheimgegebenen
ab und zeigt alsdann die Rückkehr dieſes Endlichen in Gott. So
iſt der Ausgangspunkt dieſer Metaphyſik die im religiöſen Er-
lebniß ergriffene Gottheit, ihr Problem iſt der Hervorgang des
Endlichen in ſeinem angegebenen Charakter; dieſer Hervorgang
erſcheint als ein lebendiger pſychiſcher Proceß, in welchem dann
auch die arme Gebrechlichkeit des Menſchenlebens entſpringt: bis
in einem gleichſam inverſen Verlauf die Rückkehr in die Gottheit
ſich vollzieht.

Die Philoſophie des Judenthums entwickelte ſich zuerſt, die
des Heidenthums folgte: über beide erhob ſich ſiegreich die Philo-
ſophie des Chriſtenthums
. Denn ſie trug eine macht-
volle geſchichtliche Realität in ſich; eine Realität, die ſich
mit dem innerſten Kerne jeder Wirklichkeit, die geſchichtlich vorher
da war, im Seelenleben berührte und ſie in ihrem innern Rapport
zu ſich empfand. Vor dieſer verwehten die Ekſtaſen und Schau-
ungen wie Sommerfäden im Winde. Indem das Chriſtenthum
um den Sieg rang, ward in dem Kampfe der Religionen das
Dogma zu der abſchließenden Faſſung gebracht, daß Gott, im
Gegenſatz zu allen partialen Offenbarungen, welche Juden und
Heiden in Anſpruch nahmen, ganz und ohne Reſt in die Offen-
barung durch Chriſtus mit ſeinem Weſen eingegangen ſei. Sonach
wurden alle früheren Offenbarungen dieſer als Vorſtufen unter-
geordnet. Damit ward nun Gottes Weſen, im Gegenſatz gegen
ſeine Faſſung in dem in ſich geſchloſſenen Subſtanzbegriff des Alter-
thums, in geſchichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und ſo entſtand,

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[319/0342] Andere im Chriſtenthum gelegene Keime einer veränderten Wiſſenſchaft. Menſchheit. Die Philoſophie des helleniſtiſchen Judenthums, wie ſie Philo ausgebildet hat, die Gnoſis, der Neuplatonismus als die philoſophiſche Reſtauration des Götterglaubens und die Philo- ſophie der Kirchenväter haben die Grundzüge einer Weltformel gemeinſam, welcher noch Spinozas und Schopenhauer’s Syſtem die einfache Geſchloſſenheit ihres Aufbaus verdanken. In dieſer Formel verſchlingen ſich bereits Natur und Geſchichte. Aus der Gottheit leitet dieſelbe die Entſtehung des Endlichen als eines Unvollkommenen und der Veränderlichkeit Anheimgegebenen ab und zeigt alsdann die Rückkehr dieſes Endlichen in Gott. So iſt der Ausgangspunkt dieſer Metaphyſik die im religiöſen Er- lebniß ergriffene Gottheit, ihr Problem iſt der Hervorgang des Endlichen in ſeinem angegebenen Charakter; dieſer Hervorgang erſcheint als ein lebendiger pſychiſcher Proceß, in welchem dann auch die arme Gebrechlichkeit des Menſchenlebens entſpringt: bis in einem gleichſam inverſen Verlauf die Rückkehr in die Gottheit ſich vollzieht. Die Philoſophie des Judenthums entwickelte ſich zuerſt, die des Heidenthums folgte: über beide erhob ſich ſiegreich die Philo- ſophie des Chriſtenthums. Denn ſie trug eine macht- volle geſchichtliche Realität in ſich; eine Realität, die ſich mit dem innerſten Kerne jeder Wirklichkeit, die geſchichtlich vorher da war, im Seelenleben berührte und ſie in ihrem innern Rapport zu ſich empfand. Vor dieſer verwehten die Ekſtaſen und Schau- ungen wie Sommerfäden im Winde. Indem das Chriſtenthum um den Sieg rang, ward in dem Kampfe der Religionen das Dogma zu der abſchließenden Faſſung gebracht, daß Gott, im Gegenſatz zu allen partialen Offenbarungen, welche Juden und Heiden in Anſpruch nahmen, ganz und ohne Reſt in die Offen- barung durch Chriſtus mit ſeinem Weſen eingegangen ſei. Sonach wurden alle früheren Offenbarungen dieſer als Vorſtufen unter- geordnet. Damit ward nun Gottes Weſen, im Gegenſatz gegen ſeine Faſſung in dem in ſich geſchloſſenen Subſtanzbegriff des Alter- thums, in geſchichtlicher Lebendigkeit ergriffen. Und ſo entſtand,

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/342>, abgerufen am 22.11.2024.