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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Satze aus, daß gleich schwere Körper, die in gleicher Entfernung
wirken, sich im Gleichgewicht befinden, das allgemeine Hebel-
prinzip und legte den Grund zu der Hydrostatik. Aber dem
Archimedes blieb die Dynamik ganz fremd, und er fand im Alter-
thum keine Nachfolger 1). Nicht minder charakteristisch ist die
gänzliche Abwesenheit von chemischer Wissenschaft in diesem Stadium
der Einzelwissenschaften bei den alten Völkern. Die aristotelische
Lehre von den vier sogenannten Elementen ist abgeleitet aus
der mehr fundamentalen von vier Grundeigenschaften, wenn auch
die vier Elemente selber eine Erbschaft aus älterer Zeit waren.
Der Gegenstand dieser Theorie waren also nur prädikative Be-
stimmungen und ihre Kombinationen; sie zerlegt nicht in Subjekt-
einheiten d. h. Substanzen. So wirkte sie nicht direkt auf experi-
mentelle Arbeiten hin, welche die gegebenen Objekte aufzulösen
versucht hätten. Die Atomenlehre hatte nur eine ideelle Zer-
legung der Materie vollzogen, und ihre Vorstellung von einander
qualitativ gleichen Einheiten mußte in Bezug auf die Entstehung
chemischer Grundvorstellungen zunächst eher hindernd wirken. Aus
den Bedürfnissen der medicinischen Kunst erwuchs der Versuch
des Asclepiades von Bithynien, die Vorstellung von Korpuskeln
der Betrachtung des Organismus anzunähern 2), sowie die An-
weisung zur Herstellung einiger chemischer Präparate, deren die
Aerzte sich bedienten, wie sie bei Dioscorides vorliegt. Im Gegen-
satz zu so vereinzelten Anfängen machten die Naturwissenschaften,
welche von geometrischer Konstruktion oder von Zweckvorstellungen
geleitet wurden, wie Astronomie, Geographie und Biologie regel-
mäßige Fortschritte.

So entstand schon den alten Völkern in dieser Epoche der Einzel-
wissenschaften ein Bild des Kosmos von einer unermeßlichen
Weite und doch zugleich von wissenschaftlicher Genauigkeit, welches
das Gerüst für ihr Studium der Geisteswissenschaften bildete.

1) Vergl. die ausgezeichnete Darlegung in den recherches historiques
sur le principe d'Archimede par M. Ch. Thurot (revue archeol. 1868--69).
2) Ueber Asclepiades vgl. Lasswitz, Vierteljahrsschrift für wissensch.
Philos. III, 425 ff.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Satze aus, daß gleich ſchwere Körper, die in gleicher Entfernung
wirken, ſich im Gleichgewicht befinden, das allgemeine Hebel-
prinzip und legte den Grund zu der Hydroſtatik. Aber dem
Archimedes blieb die Dynamik ganz fremd, und er fand im Alter-
thum keine Nachfolger 1). Nicht minder charakteriſtiſch iſt die
gänzliche Abweſenheit von chemiſcher Wiſſenſchaft in dieſem Stadium
der Einzelwiſſenſchaften bei den alten Völkern. Die ariſtoteliſche
Lehre von den vier ſogenannten Elementen iſt abgeleitet aus
der mehr fundamentalen von vier Grundeigenſchaften, wenn auch
die vier Elemente ſelber eine Erbſchaft aus älterer Zeit waren.
Der Gegenſtand dieſer Theorie waren alſo nur prädikative Be-
ſtimmungen und ihre Kombinationen; ſie zerlegt nicht in Subjekt-
einheiten d. h. Subſtanzen. So wirkte ſie nicht direkt auf experi-
mentelle Arbeiten hin, welche die gegebenen Objekte aufzulöſen
verſucht hätten. Die Atomenlehre hatte nur eine ideelle Zer-
legung der Materie vollzogen, und ihre Vorſtellung von einander
qualitativ gleichen Einheiten mußte in Bezug auf die Entſtehung
chemiſcher Grundvorſtellungen zunächſt eher hindernd wirken. Aus
den Bedürfniſſen der mediciniſchen Kunſt erwuchs der Verſuch
des Asclepiades von Bithynien, die Vorſtellung von Korpuskeln
der Betrachtung des Organismus anzunähern 2), ſowie die An-
weiſung zur Herſtellung einiger chemiſcher Präparate, deren die
Aerzte ſich bedienten, wie ſie bei Dioscorides vorliegt. Im Gegen-
ſatz zu ſo vereinzelten Anfängen machten die Naturwiſſenſchaften,
welche von geometriſcher Konſtruktion oder von Zweckvorſtellungen
geleitet wurden, wie Aſtronomie, Geographie und Biologie regel-
mäßige Fortſchritte.

So entſtand ſchon den alten Völkern in dieſer Epoche der Einzel-
wiſſenſchaften ein Bild des Kosmos von einer unermeßlichen
Weite und doch zugleich von wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, welches
das Gerüſt für ihr Studium der Geiſteswiſſenſchaften bildete.

1) Vergl. die ausgezeichnete Darlegung in den recherches historiques
sur le principe d’Archimède par M. Ch. Thurot (revue archéol. 1868—69).
2) Ueber Asclepiades vgl. Laſſwitz, Vierteljahrsſchrift für wiſſenſch.
Philoſ. III, 425 ff.
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[312/0335] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Satze aus, daß gleich ſchwere Körper, die in gleicher Entfernung wirken, ſich im Gleichgewicht befinden, das allgemeine Hebel- prinzip und legte den Grund zu der Hydroſtatik. Aber dem Archimedes blieb die Dynamik ganz fremd, und er fand im Alter- thum keine Nachfolger 1). Nicht minder charakteriſtiſch iſt die gänzliche Abweſenheit von chemiſcher Wiſſenſchaft in dieſem Stadium der Einzelwiſſenſchaften bei den alten Völkern. Die ariſtoteliſche Lehre von den vier ſogenannten Elementen iſt abgeleitet aus der mehr fundamentalen von vier Grundeigenſchaften, wenn auch die vier Elemente ſelber eine Erbſchaft aus älterer Zeit waren. Der Gegenſtand dieſer Theorie waren alſo nur prädikative Be- ſtimmungen und ihre Kombinationen; ſie zerlegt nicht in Subjekt- einheiten d. h. Subſtanzen. So wirkte ſie nicht direkt auf experi- mentelle Arbeiten hin, welche die gegebenen Objekte aufzulöſen verſucht hätten. Die Atomenlehre hatte nur eine ideelle Zer- legung der Materie vollzogen, und ihre Vorſtellung von einander qualitativ gleichen Einheiten mußte in Bezug auf die Entſtehung chemiſcher Grundvorſtellungen zunächſt eher hindernd wirken. Aus den Bedürfniſſen der mediciniſchen Kunſt erwuchs der Verſuch des Asclepiades von Bithynien, die Vorſtellung von Korpuskeln der Betrachtung des Organismus anzunähern 2), ſowie die An- weiſung zur Herſtellung einiger chemiſcher Präparate, deren die Aerzte ſich bedienten, wie ſie bei Dioscorides vorliegt. Im Gegen- ſatz zu ſo vereinzelten Anfängen machten die Naturwiſſenſchaften, welche von geometriſcher Konſtruktion oder von Zweckvorſtellungen geleitet wurden, wie Aſtronomie, Geographie und Biologie regel- mäßige Fortſchritte. So entſtand ſchon den alten Völkern in dieſer Epoche der Einzel- wiſſenſchaften ein Bild des Kosmos von einer unermeßlichen Weite und doch zugleich von wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, welches das Gerüſt für ihr Studium der Geiſteswiſſenſchaften bildete. 1) Vergl. die ausgezeichnete Darlegung in den recherches historiques sur le principe d’Archimède par M. Ch. Thurot (revue archéol. 1868—69). 2) Ueber Asclepiades vgl. Laſſwitz, Vierteljahrsſchrift für wiſſenſch. Philoſ. III, 425 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/335>, abgerufen am 25.11.2024.