Die Einsicht in die Relativität der Sinnesbilder erweitert sich, indem wir gewahren, wie die wechselnden äußeren Um- stände, unter denen ein Objekt gegeben ist, eine Verschiedenheit der Eindrücke bedingen. Dieselbe objektive Ursache des Tons bringt in dünner Luft einen anderen Eindruck als in dicker hervor; schabt man das Horn der Ziege, das in dem Bestand des Ganzen schwarz erscheint, so ändert sich der Sinneseindruck in Weiß; ein einzelnes Sandkorn erscheint hart, ein Sandhaufen weich 1).
So gewinnt der Skeptiker die allgemeine Formel von der Relativität jedes Wahrnehmungsbildes oder Sinnes- eindrucks. Alle von ihm aufgestellten Tropen erweisen sich schließ- lich als Specifikationen des Einen umfassenden Theorems von der Relativität der Eindrücke 2). Diese Eindrücke sind durch das Subjekt sowie durch die äußeren Bedingungen, unter denen das Objektive auftritt, bedingt; und so kann man im Gegensatz zu aller Meta- physik, welche zum Wesenhaften hindurch zu dringen behauptet, aussprechen, daß die Wahrnehmungen nur Relationen des Ob- jektiven ausdrücken können.
Und der Verstand? das Denken? Die Widerlegung der objektiven Naturerkenntniß durch die Skeptiker ist an diesem Punkte weit unvollkommener als in der Untersuchung über den Erkennt- nißwerth der sinnlichen Wahrnehmung. -- Die Vernunftwissenschaft von Plato und Aristoteles war in Mißkredit gerathen. Carneades geht davon aus, daß der Verstand seinen Stoff aus der Wahr- nehmung schöpfen muß. Bleiben wir daher zunächst innerhalb dieser Voraussetzung. Das Problem empfängt hier seine all- gemeinste Fassung durch den Begriff des Kriteriums. Es ist klar, daß die Wahrnehmungen nicht ein Kriterium in sich tragen, welches die falschen von den wahren schiede. Wir vermögen nicht jene von diesen nach einem inneren Kennzeichen, das sie an sich haben, zu sondern. Das Kriterium muß also im Denken, im
1) Ebenso fünfter bis siebenter Tropus a. a. O. 118--134.
2) Zum achten Tropus 135 ff. vgl. 39 sowie Gellius, N. A. XI, 5, 7: omnes omnino res, quae sensus hominum movent, ton pros ti esse dicunt.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die Einſicht in die Relativität der Sinnesbilder erweitert ſich, indem wir gewahren, wie die wechſelnden äußeren Um- ſtände, unter denen ein Objekt gegeben iſt, eine Verſchiedenheit der Eindrücke bedingen. Dieſelbe objektive Urſache des Tons bringt in dünner Luft einen anderen Eindruck als in dicker hervor; ſchabt man das Horn der Ziege, das in dem Beſtand des Ganzen ſchwarz erſcheint, ſo ändert ſich der Sinneseindruck in Weiß; ein einzelnes Sandkorn erſcheint hart, ein Sandhaufen weich 1).
So gewinnt der Skeptiker die allgemeine Formel von der Relativität jedes Wahrnehmungsbildes oder Sinnes- eindrucks. Alle von ihm aufgeſtellten Tropen erweiſen ſich ſchließ- lich als Specifikationen des Einen umfaſſenden Theorems von der Relativität der Eindrücke 2). Dieſe Eindrücke ſind durch das Subjekt ſowie durch die äußeren Bedingungen, unter denen das Objektive auftritt, bedingt; und ſo kann man im Gegenſatz zu aller Meta- phyſik, welche zum Weſenhaften hindurch zu dringen behauptet, ausſprechen, daß die Wahrnehmungen nur Relationen des Ob- jektiven ausdrücken können.
Und der Verſtand? das Denken? Die Widerlegung der objektiven Naturerkenntniß durch die Skeptiker iſt an dieſem Punkte weit unvollkommener als in der Unterſuchung über den Erkennt- nißwerth der ſinnlichen Wahrnehmung. — Die Vernunftwiſſenſchaft von Plato und Ariſtoteles war in Mißkredit gerathen. Carneades geht davon aus, daß der Verſtand ſeinen Stoff aus der Wahr- nehmung ſchöpfen muß. Bleiben wir daher zunächſt innerhalb dieſer Vorausſetzung. Das Problem empfängt hier ſeine all- gemeinſte Faſſung durch den Begriff des Kriteriums. Es iſt klar, daß die Wahrnehmungen nicht ein Kriterium in ſich tragen, welches die falſchen von den wahren ſchiede. Wir vermögen nicht jene von dieſen nach einem inneren Kennzeichen, das ſie an ſich haben, zu ſondern. Das Kriterium muß alſo im Denken, im
1) Ebenſo fünfter bis ſiebenter Tropus a. a. O. 118—134.
2) Zum achten Tropus 135 ff. vgl. 39 ſowie Gellius, N. A. XI, 5, 7: omnes omnino res, quae sensus hominum movent, τῶν πϱός τι esse dicunt.
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die Einſicht in die Relativität der Sinnesbilder erweitert ſich,
indem wir gewahren, wie die wechſelnden äußeren Um-
ſtände, unter denen ein Objekt gegeben iſt, eine Verſchiedenheit
der Eindrücke bedingen. Dieſelbe objektive Urſache des Tons bringt
in dünner Luft einen anderen Eindruck als in dicker hervor;
ſchabt man das Horn der Ziege, das in dem Beſtand des Ganzen
ſchwarz erſcheint, ſo ändert ſich der Sinneseindruck in Weiß; ein
einzelnes Sandkorn erſcheint hart, ein Sandhaufen weich 1).
So gewinnt der Skeptiker die allgemeine Formel von
der Relativität jedes Wahrnehmungsbildes oder Sinnes-
eindrucks. Alle von ihm aufgeſtellten Tropen erweiſen ſich ſchließ-
lich als Specifikationen des Einen umfaſſenden Theorems von der
Relativität der Eindrücke 2). Dieſe Eindrücke ſind durch das Subjekt
ſowie durch die äußeren Bedingungen, unter denen das Objektive
auftritt, bedingt; und ſo kann man im Gegenſatz zu aller Meta-
phyſik, welche zum Weſenhaften hindurch zu dringen behauptet,
ausſprechen, daß die Wahrnehmungen nur Relationen des Ob-
jektiven ausdrücken können.
Und der Verſtand? das Denken? Die Widerlegung der
objektiven Naturerkenntniß durch die Skeptiker iſt an dieſem Punkte
weit unvollkommener als in der Unterſuchung über den Erkennt-
nißwerth der ſinnlichen Wahrnehmung. — Die Vernunftwiſſenſchaft
von Plato und Ariſtoteles war in Mißkredit gerathen. Carneades
geht davon aus, daß der Verſtand ſeinen Stoff aus der Wahr-
nehmung ſchöpfen muß. Bleiben wir daher zunächſt innerhalb
dieſer Vorausſetzung. Das Problem empfängt hier ſeine all-
gemeinſte Faſſung durch den Begriff des Kriteriums. Es iſt
klar, daß die Wahrnehmungen nicht ein Kriterium in ſich tragen,
welches die falſchen von den wahren ſchiede. Wir vermögen nicht
jene von dieſen nach einem inneren Kennzeichen, das ſie an ſich
haben, zu ſondern. Das Kriterium muß alſo im Denken, im
1) Ebenſo fünfter bis ſiebenter Tropus a. a. O. 118—134.
2) Zum achten Tropus 135 ff. vgl. 39 ſowie Gellius, N. A. XI,
5, 7: omnes omnino res, quae sensus hominum movent, τῶν πϱός τι
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/325>, abgerufen am 22.11.2024.
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