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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Schranken des antiken Skepticismus.

So erklärt Sextus Empiricus ausdrücklich: der Skeptiker hebt
das Erscheinende nicht auf; er erkennt den passiven Zustand, in dem
er sich in der Wahrnehmung findet, an und bezweifelt nur jede Be-
hauptung über das diesem Zustand objektiv zu Grunde Liegende 1).
Bei Diogenes Laertius findet man damit übereinstimmend die
Grenzen des Skepticismus angegeben, wie sie von den Skeptikern
gegenüber den Entstellungen der Metaphysiker festgestellt wurden.
Zustände, die wir erleben, Phänomene (ta phainomena), werden nicht
bezweifelt, wol aber jede Erkenntniß dessen, was wahrhaft ist,
dessen nämlich, was in der Außenwelt ihnen zu Grunde liegt 2).
Diese ausdrücklichen Erklärungen zeigen, daß den Skeptikern
die richtige Verwerthung der von ihnen anerkannten Phänomene
des Bewußtseins für das Problem des Wissens durchaus fehlt.
Daher leugnen sie jedes Wissen von etwas wahrhaft Seiendem,
während sie im Grunde nur eine Erkenntniß der Außenwelt wider-
legt haben. Am deutlichsten wird diese Grenze ihres Denkens
durch einen sonderbaren Streit. Sagen die Skeptiker: Alles ist
falsch, so erklären die Metaphysiker: also auch diese Behauptung,
und sonach hebt sie sich selber auf. Die gründlichste Erwiderung
der Skeptiker hierauf ist: der Skeptiker drückt mit solchen Worten
nur seinen eigenen Zustand aus, ansichtslos, ohne über das außer-
halb seiner den Phänomenen Unterliegende irgend etwas auszusagen 3).
Da muß denn der Erkenntnißtheoretiker hinzutreten, um den Streit
zu schlichten, und muß erklären: eben in diesem Zustand ist ein
wahrhaftes Wissen gegeben, und in ihm liegt der Ausgangspunkt
aller Philosophie.

Nachdem wir uns diese Schranken des Skepticismus klar ge-
macht haben, verweisen wir nunmehr mit Entschiedenheit jeden,
welcher eine Erkenntniß der objektiven Unterlage des in unseren
Eindrücken Erscheinenden für möglich hält, auf die definitive Be-
seitigung jedes Versuchs solcher Art, wie sie in den auf uns ge-
kommenen Ueberresten der vortrefflichen skeptischen Schule enthalten

1) Sextus, hypotyp. I, 13. 20.
2) Diogenes IX, 102--108.
3) Sextus, hypotyp. I, 15.
Die Schranken des antiken Skepticismus.

So erklärt Sextus Empiricus ausdrücklich: der Skeptiker hebt
das Erſcheinende nicht auf; er erkennt den paſſiven Zuſtand, in dem
er ſich in der Wahrnehmung findet, an und bezweifelt nur jede Be-
hauptung über das dieſem Zuſtand objektiv zu Grunde Liegende 1).
Bei Diogenes Laertius findet man damit übereinſtimmend die
Grenzen des Skepticismus angegeben, wie ſie von den Skeptikern
gegenüber den Entſtellungen der Metaphyſiker feſtgeſtellt wurden.
Zuſtände, die wir erleben, Phänomene (τὰ φαινόμενα), werden nicht
bezweifelt, wol aber jede Erkenntniß deſſen, was wahrhaft iſt,
deſſen nämlich, was in der Außenwelt ihnen zu Grunde liegt 2).
Dieſe ausdrücklichen Erklärungen zeigen, daß den Skeptikern
die richtige Verwerthung der von ihnen anerkannten Phänomene
des Bewußtſeins für das Problem des Wiſſens durchaus fehlt.
Daher leugnen ſie jedes Wiſſen von etwas wahrhaft Seiendem,
während ſie im Grunde nur eine Erkenntniß der Außenwelt wider-
legt haben. Am deutlichſten wird dieſe Grenze ihres Denkens
durch einen ſonderbaren Streit. Sagen die Skeptiker: Alles iſt
falſch, ſo erklären die Metaphyſiker: alſo auch dieſe Behauptung,
und ſonach hebt ſie ſich ſelber auf. Die gründlichſte Erwiderung
der Skeptiker hierauf iſt: der Skeptiker drückt mit ſolchen Worten
nur ſeinen eigenen Zuſtand aus, anſichtslos, ohne über das außer-
halb ſeiner den Phänomenen Unterliegende irgend etwas auszuſagen 3).
Da muß denn der Erkenntnißtheoretiker hinzutreten, um den Streit
zu ſchlichten, und muß erklären: eben in dieſem Zuſtand iſt ein
wahrhaftes Wiſſen gegeben, und in ihm liegt der Ausgangspunkt
aller Philoſophie.

Nachdem wir uns dieſe Schranken des Skepticismus klar ge-
macht haben, verweiſen wir nunmehr mit Entſchiedenheit jeden,
welcher eine Erkenntniß der objektiven Unterlage des in unſeren
Eindrücken Erſcheinenden für möglich hält, auf die definitive Be-
ſeitigung jedes Verſuchs ſolcher Art, wie ſie in den auf uns ge-
kommenen Ueberreſten der vortrefflichen ſkeptiſchen Schule enthalten

1) Sextus, hypotyp. I, 13. 20.
2) Diogenes IX, 102—108.
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[299/0322] Die Schranken des antiken Skepticismus. So erklärt Sextus Empiricus ausdrücklich: der Skeptiker hebt das Erſcheinende nicht auf; er erkennt den paſſiven Zuſtand, in dem er ſich in der Wahrnehmung findet, an und bezweifelt nur jede Be- hauptung über das dieſem Zuſtand objektiv zu Grunde Liegende 1). Bei Diogenes Laertius findet man damit übereinſtimmend die Grenzen des Skepticismus angegeben, wie ſie von den Skeptikern gegenüber den Entſtellungen der Metaphyſiker feſtgeſtellt wurden. Zuſtände, die wir erleben, Phänomene (τὰ φαινόμενα), werden nicht bezweifelt, wol aber jede Erkenntniß deſſen, was wahrhaft iſt, deſſen nämlich, was in der Außenwelt ihnen zu Grunde liegt 2). Dieſe ausdrücklichen Erklärungen zeigen, daß den Skeptikern die richtige Verwerthung der von ihnen anerkannten Phänomene des Bewußtſeins für das Problem des Wiſſens durchaus fehlt. Daher leugnen ſie jedes Wiſſen von etwas wahrhaft Seiendem, während ſie im Grunde nur eine Erkenntniß der Außenwelt wider- legt haben. Am deutlichſten wird dieſe Grenze ihres Denkens durch einen ſonderbaren Streit. Sagen die Skeptiker: Alles iſt falſch, ſo erklären die Metaphyſiker: alſo auch dieſe Behauptung, und ſonach hebt ſie ſich ſelber auf. Die gründlichſte Erwiderung der Skeptiker hierauf iſt: der Skeptiker drückt mit ſolchen Worten nur ſeinen eigenen Zuſtand aus, anſichtslos, ohne über das außer- halb ſeiner den Phänomenen Unterliegende irgend etwas auszuſagen 3). Da muß denn der Erkenntnißtheoretiker hinzutreten, um den Streit zu ſchlichten, und muß erklären: eben in dieſem Zuſtand iſt ein wahrhaftes Wiſſen gegeben, und in ihm liegt der Ausgangspunkt aller Philoſophie. Nachdem wir uns dieſe Schranken des Skepticismus klar ge- macht haben, verweiſen wir nunmehr mit Entſchiedenheit jeden, welcher eine Erkenntniß der objektiven Unterlage des in unſeren Eindrücken Erſcheinenden für möglich hält, auf die definitive Be- ſeitigung jedes Verſuchs ſolcher Art, wie ſie in den auf uns ge- kommenen Ueberreſten der vortrefflichen ſkeptiſchen Schule enthalten 1) Sextus, hypotyp. I, 13. 20. 2) Diogenes IX, 102—108. 3) Sextus, hypotyp. I, 15.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/322>, abgerufen am 25.11.2024.