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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die ihm entsprechende Aufgabe einer vergl. Zergliederung d. Staatsverf.
keiten und Gemeinsamkeiten ist nur die Außenseite der realen Be-
ziehungen der Interessen unter einander. Die inhaltlichen Faktoren
des Staatslebens liegen insbesondere in den Zwecken und Interessen,
welche nicht durch das freie Ineinandergreifen der Handlungen der In-
dividuen zur Befriedigung gelangen. Hier gewahren wir die reale Seite
dessen, was, nach den bloßen Willensverhältnissen betrachtet, als Me-
chanik der Gesellschaft und des Staatslebens sich darstellt und in der
Existenz eines herrschenden Staatswillens seinen Abschluß findet.
Diesen status der äußeren Willensverhältnisse in einem Staate
können wir als Staatsform oder auch als Verfassung bezeichnen.

Diesem Thatbestand entspricht, daß die politische Wissenschaft
in Aristoteles zunächst durch Anwendung der vergleichenden
Methode die äußeren Formen oder die Verfassungen bestimmt hat.
Das reale Leben des Staates ist so außerordentlich komplex, daß
selbst die moderne, wahrhaft analytische Wissenschaft noch am
Anfang seiner wissenschaftlichen Behandlung steht. Das Alterthum
besaß aber die Bedingungen eines solchen wahrhaft analytischen
Verfahrens noch gar nicht. Ihm fehlten eine entwickelte Psycho-
logie und die zwischen ihr und der Politik stehenden Einzelwissen-
schaften. Der Zusammensetzung der realen Zwecke im Leben des
Staates gegenüber war es so an einer fruchtbaren Analysis ge-
hindert, welche erst sehr spät Wissenschaften wie die politische
Oekonomie und Schriftsteller wie Niebuhr, Tocqueville zu voll-
bringen begonnen haben.

Sonach war die griechische Staatswissenschaft auf
ihrem Höhepunkt in Aristoteles vorzugsweise Zergliederung der
Verfassungen. Durch diese Einschränkung der Betrachtungsweise
ist bedingt, daß dem Aristoteles der Staat ein anderer wird,
wenn die Staatsverfassung sich ändert. Der Staat (polis) ist
eine Gemeinschaft (koinonia), das Wesen dieser Gemeinschaft (koinonia politon)
wird durch die Verfassung (politeia) bezeichnet; so-
nach ändert sich mit der Verfassung der Staat. Die Personen bleiben
dabei dieselben, wie ja dieselben Personen den tragischen Chor
bilden und aus ihm in den Chor der Komödie eintreten. Aristoteles
gewahrt nicht hinter dem Wechsel der Staatsform die dauernde

19*

Die ihm entſprechende Aufgabe einer vergl. Zergliederung d. Staatsverf.
keiten und Gemeinſamkeiten iſt nur die Außenſeite der realen Be-
ziehungen der Intereſſen unter einander. Die inhaltlichen Faktoren
des Staatslebens liegen insbeſondere in den Zwecken und Intereſſen,
welche nicht durch das freie Ineinandergreifen der Handlungen der In-
dividuen zur Befriedigung gelangen. Hier gewahren wir die reale Seite
deſſen, was, nach den bloßen Willensverhältniſſen betrachtet, als Me-
chanik der Geſellſchaft und des Staatslebens ſich darſtellt und in der
Exiſtenz eines herrſchenden Staatswillens ſeinen Abſchluß findet.
Dieſen status der äußeren Willensverhältniſſe in einem Staate
können wir als Staatsform oder auch als Verfaſſung bezeichnen.

Dieſem Thatbeſtand entſpricht, daß die politiſche Wiſſenſchaft
in Ariſtoteles zunächſt durch Anwendung der vergleichenden
Methode die äußeren Formen oder die Verfaſſungen beſtimmt hat.
Das reale Leben des Staates iſt ſo außerordentlich komplex, daß
ſelbſt die moderne, wahrhaft analytiſche Wiſſenſchaft noch am
Anfang ſeiner wiſſenſchaftlichen Behandlung ſteht. Das Alterthum
beſaß aber die Bedingungen eines ſolchen wahrhaft analytiſchen
Verfahrens noch gar nicht. Ihm fehlten eine entwickelte Pſycho-
logie und die zwiſchen ihr und der Politik ſtehenden Einzelwiſſen-
ſchaften. Der Zuſammenſetzung der realen Zwecke im Leben des
Staates gegenüber war es ſo an einer fruchtbaren Analyſis ge-
hindert, welche erſt ſehr ſpät Wiſſenſchaften wie die politiſche
Oekonomie und Schriftſteller wie Niebuhr, Tocqueville zu voll-
bringen begonnen haben.

Sonach war die griechiſche Staatswiſſenſchaft auf
ihrem Höhepunkt in Ariſtoteles vorzugsweiſe Zergliederung der
Verfaſſungen. Durch dieſe Einſchränkung der Betrachtungsweiſe
iſt bedingt, daß dem Ariſtoteles der Staat ein anderer wird,
wenn die Staatsverfaſſung ſich ändert. Der Staat (πόλις) iſt
eine Gemeinſchaft (κοινωνία), das Weſen dieſer Gemeinſchaft (κοινωνία πολιτῶν)
wird durch die Verfaſſung (πολιτεία) bezeichnet; ſo-
nach ändert ſich mit der Verfaſſung der Staat. Die Perſonen bleiben
dabei dieſelben, wie ja dieſelben Perſonen den tragiſchen Chor
bilden und aus ihm in den Chor der Komödie eintreten. Ariſtoteles
gewahrt nicht hinter dem Wechſel der Staatsform die dauernde

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[291/0314] Die ihm entſprechende Aufgabe einer vergl. Zergliederung d. Staatsverf. keiten und Gemeinſamkeiten iſt nur die Außenſeite der realen Be- ziehungen der Intereſſen unter einander. Die inhaltlichen Faktoren des Staatslebens liegen insbeſondere in den Zwecken und Intereſſen, welche nicht durch das freie Ineinandergreifen der Handlungen der In- dividuen zur Befriedigung gelangen. Hier gewahren wir die reale Seite deſſen, was, nach den bloßen Willensverhältniſſen betrachtet, als Me- chanik der Geſellſchaft und des Staatslebens ſich darſtellt und in der Exiſtenz eines herrſchenden Staatswillens ſeinen Abſchluß findet. Dieſen status der äußeren Willensverhältniſſe in einem Staate können wir als Staatsform oder auch als Verfaſſung bezeichnen. Dieſem Thatbeſtand entſpricht, daß die politiſche Wiſſenſchaft in Ariſtoteles zunächſt durch Anwendung der vergleichenden Methode die äußeren Formen oder die Verfaſſungen beſtimmt hat. Das reale Leben des Staates iſt ſo außerordentlich komplex, daß ſelbſt die moderne, wahrhaft analytiſche Wiſſenſchaft noch am Anfang ſeiner wiſſenſchaftlichen Behandlung ſteht. Das Alterthum beſaß aber die Bedingungen eines ſolchen wahrhaft analytiſchen Verfahrens noch gar nicht. Ihm fehlten eine entwickelte Pſycho- logie und die zwiſchen ihr und der Politik ſtehenden Einzelwiſſen- ſchaften. Der Zuſammenſetzung der realen Zwecke im Leben des Staates gegenüber war es ſo an einer fruchtbaren Analyſis ge- hindert, welche erſt ſehr ſpät Wiſſenſchaften wie die politiſche Oekonomie und Schriftſteller wie Niebuhr, Tocqueville zu voll- bringen begonnen haben. Sonach war die griechiſche Staatswiſſenſchaft auf ihrem Höhepunkt in Ariſtoteles vorzugsweiſe Zergliederung der Verfaſſungen. Durch dieſe Einſchränkung der Betrachtungsweiſe iſt bedingt, daß dem Ariſtoteles der Staat ein anderer wird, wenn die Staatsverfaſſung ſich ändert. Der Staat (πόλις) iſt eine Gemeinſchaft (κοινωνία), das Weſen dieſer Gemeinſchaft (κοινωνία πολιτῶν) wird durch die Verfaſſung (πολιτεία) bezeichnet; ſo- nach ändert ſich mit der Verfaſſung der Staat. Die Perſonen bleiben dabei dieſelben, wie ja dieſelben Perſonen den tragiſchen Chor bilden und aus ihm in den Chor der Komödie eintreten. Ariſtoteles gewahrt nicht hinter dem Wechſel der Staatsform die dauernde 19*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/314>, abgerufen am 22.11.2024.