genugsame Weise erreicht wird. Solche Bestimmungen sind z. B. die Ungleichheit der Individuen, der Gegensatz der Herrschenden und Beherrschten, die Proportion von Leistung und politischer Macht. Sie besitzen die Nothwendigkeit des Zweckes. Und zwar besteht das System (sustema), zu welchem die Menge (plethos) durch den Zweck in der Politie geordnet ist, aus ungleichartigen Bestandtheilen. Auch geht das Individuum in diesem Zweck nicht ganz auf. Das Zusammenwirken von ungleichartigen Einzelnen als von Theilen zu einem Ganzen kann mit dem der Theile inner- halb eines Organismus verglichen werden. Der einzelne Mensch verhält sich zum Staatsganzen wie Fuß oder Hand zu einem Körper.
So bereitet sich in Aristoteles die Auffassung des Staates als eines Organismus vor, welche eine so verhängniß- volle Rolle in der Geschichte der politischen Wissenschaften gespielt hat. Der Begriff des Organismus ist in seiner Art das letzte Wort dieser Metaphysik des Staates. Und zwar ist derselbe, wie jeder Begriff der Staatseinheit, welcher diese nicht ana- lytisch aus der Wirklichkeit des Staatslebens bis zu einem ge- wissen Punkte aufklärt, sondern als eine Formel zum Zwecke der Ableitung auftritt, eine metaphysische Begriffsdichtung. Was im sozialen Leben erfahren wird, kann die Analysis in einem gewissen Umfang zerlegen, aber nie vermag sie, in einer Formel den Reich- thum des Lebens auszudrücken1). Daher ist die Realität des Staates nicht in einer bestimmten Zahl begrifflicher Elemente dar- stellbar. Dies zeigt sich schon hier, bei Aristoteles, in der Dun- kelheit des von ihm gebildeten Gedankens des Staates als eines or- ganischen Ganzen, und diese Dunkelheit als in der Sache selber liegend ist nie überwunden worden2).
Dennoch hat die Betrachtungsweise des Aristoteles, welche den Staat als einen realen Zweckzusammenhang dachte, sich für ein vergleichendes Studium des Staates höchst fruchtbar erwiesen. Sie hat auf dem Gebiet des Geistes eine nahezu ebenso
1) Vgl. S. 119 ff.
2) Vgl. S. 88 ff.
Dilthey, Einleitung. 19
Der ariſtoteliſche Begriff des Staates.
genugſame Weiſe erreicht wird. Solche Beſtimmungen ſind z. B. die Ungleichheit der Individuen, der Gegenſatz der Herrſchenden und Beherrſchten, die Proportion von Leiſtung und politiſcher Macht. Sie beſitzen die Nothwendigkeit des Zweckes. Und zwar beſteht das Syſtem (σύστημα), zu welchem die Menge (πλῆϑος) durch den Zweck in der Politie geordnet iſt, aus ungleichartigen Beſtandtheilen. Auch geht das Individuum in dieſem Zweck nicht ganz auf. Das Zuſammenwirken von ungleichartigen Einzelnen als von Theilen zu einem Ganzen kann mit dem der Theile inner- halb eines Organismus verglichen werden. Der einzelne Menſch verhält ſich zum Staatsganzen wie Fuß oder Hand zu einem Körper.
So bereitet ſich in Ariſtoteles die Auffaſſung des Staates als eines Organismus vor, welche eine ſo verhängniß- volle Rolle in der Geſchichte der politiſchen Wiſſenſchaften geſpielt hat. Der Begriff des Organismus iſt in ſeiner Art das letzte Wort dieſer Metaphyſik des Staates. Und zwar iſt derſelbe, wie jeder Begriff der Staatseinheit, welcher dieſe nicht ana- lytiſch aus der Wirklichkeit des Staatslebens bis zu einem ge- wiſſen Punkte aufklärt, ſondern als eine Formel zum Zwecke der Ableitung auftritt, eine metaphyſiſche Begriffsdichtung. Was im ſozialen Leben erfahren wird, kann die Analyſis in einem gewiſſen Umfang zerlegen, aber nie vermag ſie, in einer Formel den Reich- thum des Lebens auszudrücken1). Daher iſt die Realität des Staates nicht in einer beſtimmten Zahl begrifflicher Elemente dar- ſtellbar. Dies zeigt ſich ſchon hier, bei Ariſtoteles, in der Dun- kelheit des von ihm gebildeten Gedankens des Staates als eines or- ganiſchen Ganzen, und dieſe Dunkelheit als in der Sache ſelber liegend iſt nie überwunden worden2).
Dennoch hat die Betrachtungsweiſe des Ariſtoteles, welche den Staat als einen realen Zweckzuſammenhang dachte, ſich für ein vergleichendes Studium des Staates höchſt fruchtbar erwieſen. Sie hat auf dem Gebiet des Geiſtes eine nahezu ebenſo
1) Vgl. S. 119 ff.
2) Vgl. S. 88 ff.
Dilthey, Einleitung. 19
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Der ariſtoteliſche Begriff des Staates.
genugſame Weiſe erreicht wird. Solche Beſtimmungen ſind z. B.
die Ungleichheit der Individuen, der Gegenſatz der Herrſchenden
und Beherrſchten, die Proportion von Leiſtung und politiſcher
Macht. Sie beſitzen die Nothwendigkeit des Zweckes. Und zwar
beſteht das Syſtem (σύστημα), zu welchem die Menge (πλῆϑος)
durch den Zweck in der Politie geordnet iſt, aus ungleichartigen
Beſtandtheilen. Auch geht das Individuum in dieſem Zweck nicht
ganz auf. Das Zuſammenwirken von ungleichartigen Einzelnen
als von Theilen zu einem Ganzen kann mit dem der Theile inner-
halb eines Organismus verglichen werden. Der einzelne Menſch
verhält ſich zum Staatsganzen wie Fuß oder Hand zu einem
Körper.
So bereitet ſich in Ariſtoteles die Auffaſſung des Staates
als eines Organismus vor, welche eine ſo verhängniß-
volle Rolle in der Geſchichte der politiſchen Wiſſenſchaften geſpielt
hat. Der Begriff des Organismus iſt in ſeiner Art das letzte
Wort dieſer Metaphyſik des Staates. Und zwar iſt derſelbe,
wie jeder Begriff der Staatseinheit, welcher dieſe nicht ana-
lytiſch aus der Wirklichkeit des Staatslebens bis zu einem ge-
wiſſen Punkte aufklärt, ſondern als eine Formel zum Zwecke der
Ableitung auftritt, eine metaphyſiſche Begriffsdichtung. Was im
ſozialen Leben erfahren wird, kann die Analyſis in einem gewiſſen
Umfang zerlegen, aber nie vermag ſie, in einer Formel den Reich-
thum des Lebens auszudrücken 1). Daher iſt die Realität des
Staates nicht in einer beſtimmten Zahl begrifflicher Elemente dar-
ſtellbar. Dies zeigt ſich ſchon hier, bei Ariſtoteles, in der Dun-
kelheit des von ihm gebildeten Gedankens des Staates als eines or-
ganiſchen Ganzen, und dieſe Dunkelheit als in der Sache ſelber
liegend iſt nie überwunden worden 2).
Dennoch hat die Betrachtungsweiſe des Ariſtoteles, welche
den Staat als einen realen Zweckzuſammenhang dachte, ſich für
ein vergleichendes Studium des Staates höchſt fruchtbar
erwieſen. Sie hat auf dem Gebiet des Geiſtes eine nahezu ebenſo
1) Vgl. S. 119 ff.
2) Vgl. S. 88 ff.
Dilthey, Einleitung. 19
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/312>, abgerufen am 16.02.2025.
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