aufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung des Individuum ja in seiner Erfahrung gegenwärtig besitzt, wirklich etwas her- vor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Mensch- heit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Ent- wickelung schwelgen.
Vergeblich freilich hat die metaphysische Epoche, für welche diese Verschiedenheit der Erklärungsgründe sich sofort als eine substantiale Verschiedenheit in der objektiven Gliederung des Welt- zusammenhangs darstellte, gerungen, Formeln für die objektive Grundlage dieses Unterschieds der Thatsachen des geistigen Lebens von denen des Naturlaufs festzustellen und zu begründen. Unter allen Veränderungen, welche die Metaphysik der Alten bei den mittelalterlichen Denkern erfahren hat, ist keine folgenreicher ge- wesen, als daß nunmehr, im Zusammenhang mit den alles be- herrschenden religiösen und theologischen Bewegungen, inmitten deren diese Denker standen, die Bestimmung der Verschiedenheit zwischen der Welt der Geister und der Welt der Körper, alsdann der Beziehung dieser beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittel- punkt des Systems trat. Das metaphysische Hauptwerk des Mittel- alters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas, entwirft von seinem zweiten Buche ab eine Gliederung der ge- schaffenen Welt, in welcher die Wesenheit (eessentia quidditas) von dem Sein (esse) unterschieden ist, während in Gott selber diese beiden eins sind 1); in der Hierarchie der geschaffenen Wesen weist es als ein oberstes nothwendiges Glied die geistigen Sub- stanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zusammenge- setzt, sondern per se körperlos sind: die Engel; von ihnen scheidet es die intellektuellen Substanzen oder unkörperlichen subsistirenden Formen, welche zur Completirung ihrer Species (nämlich der Spe- cies: Mensch) der Körper bedürfen, und entwickelt an diesem Punkte eine Metaphysik des Menschengeistes, im Kampf gegen die arabischen
1)Summa c. gent. (cura Uccellii, Romae 1878) I, c. 22. vgl. II, c. 54.
Erſtes einleitendes Buch.
aufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung des Individuum ja in ſeiner Erfahrung gegenwärtig beſitzt, wirklich etwas her- vor, erarbeiten Entwicklung, in der Perſon und in der Menſch- heit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtſein hinaus, in deren Vorſtellung als einem Ideal geſchichtlichen Fortſchritts die Götzenanbeter der intellektuellen Ent- wickelung ſchwelgen.
Vergeblich freilich hat die metaphyſiſche Epoche, für welche dieſe Verſchiedenheit der Erklärungsgründe ſich ſofort als eine ſubſtantiale Verſchiedenheit in der objektiven Gliederung des Welt- zuſammenhangs darſtellte, gerungen, Formeln für die objektive Grundlage dieſes Unterſchieds der Thatſachen des geiſtigen Lebens von denen des Naturlaufs feſtzuſtellen und zu begründen. Unter allen Veränderungen, welche die Metaphyſik der Alten bei den mittelalterlichen Denkern erfahren hat, iſt keine folgenreicher ge- weſen, als daß nunmehr, im Zuſammenhang mit den alles be- herrſchenden religiöſen und theologiſchen Bewegungen, inmitten deren dieſe Denker ſtanden, die Beſtimmung der Verſchiedenheit zwiſchen der Welt der Geiſter und der Welt der Körper, alsdann der Beziehung dieſer beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittel- punkt des Syſtems trat. Das metaphyſiſche Hauptwerk des Mittel- alters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas, entwirft von ſeinem zweiten Buche ab eine Gliederung der ge- ſchaffenen Welt, in welcher die Weſenheit (eessentia quidditas) von dem Sein (esse) unterſchieden iſt, während in Gott ſelber dieſe beiden eins ſind 1); in der Hierarchie der geſchaffenen Weſen weiſt es als ein oberſtes nothwendiges Glied die geiſtigen Sub- ſtanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zuſammenge- ſetzt, ſondern per se körperlos ſind: die Engel; von ihnen ſcheidet es die intellektuellen Subſtanzen oder unkörperlichen ſubſiſtirenden Formen, welche zur Completirung ihrer Species (nämlich der Spe- cies: Menſch) der Körper bedürfen, und entwickelt an dieſem Punkte eine Metaphyſik des Menſchengeiſtes, im Kampf gegen die arabiſchen
1)Summa c. gent. (cura Uccellii, Romae 1878) I, c. 22. vgl. II, c. 54.
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Erſtes einleitendes Buch.
aufwand und ihre Opfer, deren Bedeutung des Individuum ja
in ſeiner Erfahrung gegenwärtig beſitzt, wirklich etwas her-
vor, erarbeiten Entwicklung, in der Perſon und in der Menſch-
heit: über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf
im Bewußtſein hinaus, in deren Vorſtellung als einem Ideal
geſchichtlichen Fortſchritts die Götzenanbeter der intellektuellen Ent-
wickelung ſchwelgen.
Vergeblich freilich hat die metaphyſiſche Epoche, für welche
dieſe Verſchiedenheit der Erklärungsgründe ſich ſofort als eine
ſubſtantiale Verſchiedenheit in der objektiven Gliederung des Welt-
zuſammenhangs darſtellte, gerungen, Formeln für die objektive
Grundlage dieſes Unterſchieds der Thatſachen des geiſtigen Lebens
von denen des Naturlaufs feſtzuſtellen und zu begründen. Unter
allen Veränderungen, welche die Metaphyſik der Alten bei den
mittelalterlichen Denkern erfahren hat, iſt keine folgenreicher ge-
weſen, als daß nunmehr, im Zuſammenhang mit den alles be-
herrſchenden religiöſen und theologiſchen Bewegungen, inmitten
deren dieſe Denker ſtanden, die Beſtimmung der Verſchiedenheit
zwiſchen der Welt der Geiſter und der Welt der Körper, alsdann
der Beziehung dieſer beiden Welten zu der Gottheit, in den Mittel-
punkt des Syſtems trat. Das metaphyſiſche Hauptwerk des Mittel-
alters, die Summa de veritate catholicae fidei des Thomas,
entwirft von ſeinem zweiten Buche ab eine Gliederung der ge-
ſchaffenen Welt, in welcher die Weſenheit (eessentia quidditas)
von dem Sein (esse) unterſchieden iſt, während in Gott ſelber
dieſe beiden eins ſind 1); in der Hierarchie der geſchaffenen Weſen
weiſt es als ein oberſtes nothwendiges Glied die geiſtigen Sub-
ſtanzen nach, welche nicht aus Materie und Form zuſammenge-
ſetzt, ſondern per se körperlos ſind: die Engel; von ihnen ſcheidet
es die intellektuellen Subſtanzen oder unkörperlichen ſubſiſtirenden
Formen, welche zur Completirung ihrer Species (nämlich der Spe-
cies: Menſch) der Körper bedürfen, und entwickelt an dieſem Punkte
eine Metaphyſik des Menſchengeiſtes, im Kampf gegen die arabiſchen
1) Summa c. gent. (cura Uccellii, Romae 1878) I, c. 22. vgl. II, c. 54.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/31>, abgerufen am 03.02.2025.
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