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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Staatswissenschaft der sokratischen Schule.
in Gegensatz zu der herrschenden Demokratie und zu der Gleich-
berechtigung jedes gesellschaftlichen Atoms in Bezug auf die Leitung
des Staates, welche diese Demokratie am schroffsten in der Zu-
theilung von Staatsämtern durch das Loos ausdrückte. Das
Wissen macht zum Herrscher; es ist die Vorbedingung des An-
theiles an der Staatsleitung.

Platos großer organisatorischer Geist konstruirt von diesem
Gedanken aus den idealen Staat als ein Gegenbild des
äußeren Kosmos, den Staat als Kunstwerk. Er fand die
athenische Gesellschaft in soziale Atome aufgelöst; so faßte er den
Gedanken, die Beziehung zwischen politischem Wissen und Können
und dem Antheil an der Staatsleitung nicht in das vorhandene
politische Gefüge einzuordnen, sondern von diesem abstrakten Ver-
hältniß aus den Staat zu konstruiren; bei den neueren Völkern
hat dann dieser Gedanke auf die vorhandene Realität der Staats-
ordnungen fortbildend eingewirkt, und so erscheint Plato als weis-
sagender Genius in Bezug auf wesentliche Züge des modernen
Beamtenstaates. Er fand alsdann, umgeben vom Ringen der
Politien um die Herrschaft und vom Kampf der Interessen, die
höchste Koncentration aller Einzelinteressen und Einzelkräfte in dem
von ihm entworfenen einsichtigen, einheitlichen Staatswillen noth-
wendig; daher stattete er seinen idealen Staat mit den äußersten
Mitteln aus, welche in dem Bereich des ohnehin mit dem Eigen-
thum wie mit der Freiheit in künstlerischer Machtvollkommenheit
schaltenden griechischen Staates lagen, um diese Unterordnung der
Einzelwillen, der Einzelinteressen unter die leitende Vernunft her-
zustellen. So entsteht eine Gliederung, in welcher die Einsichtigen
regieren, die Starken sie unterstützen, die im Erwerb versunkene
Masse gehorcht: ein Abbild der Psyche. Die Tugenden der Theile
der Seele sind die der Stände des Staates. Wie das Streben
nach dem Guten in der Beziehung der Psyche zu der Ideenwelt
gegründet ist, so gestaltet dasselbe auch im Zusammenhang mit der
Ideenwelt das Ideal eines gesellschaftlichen Kosmos, den Staat,
als eine zwar entstandene, aber durch die Abmessung der Kräfte in
den Seelen unzerreißbar gefügte Einheit. Die politische Kunst ge-

Die Staatswiſſenſchaft der ſokratiſchen Schule.
in Gegenſatz zu der herrſchenden Demokratie und zu der Gleich-
berechtigung jedes geſellſchaftlichen Atoms in Bezug auf die Leitung
des Staates, welche dieſe Demokratie am ſchroffſten in der Zu-
theilung von Staatsämtern durch das Loos ausdrückte. Das
Wiſſen macht zum Herrſcher; es iſt die Vorbedingung des An-
theiles an der Staatsleitung.

Platos großer organiſatoriſcher Geiſt konſtruirt von dieſem
Gedanken aus den idealen Staat als ein Gegenbild des
äußeren Kosmos, den Staat als Kunſtwerk. Er fand die
atheniſche Geſellſchaft in ſoziale Atome aufgelöſt; ſo faßte er den
Gedanken, die Beziehung zwiſchen politiſchem Wiſſen und Können
und dem Antheil an der Staatsleitung nicht in das vorhandene
politiſche Gefüge einzuordnen, ſondern von dieſem abſtrakten Ver-
hältniß aus den Staat zu konſtruiren; bei den neueren Völkern
hat dann dieſer Gedanke auf die vorhandene Realität der Staats-
ordnungen fortbildend eingewirkt, und ſo erſcheint Plato als weis-
ſagender Genius in Bezug auf weſentliche Züge des modernen
Beamtenſtaates. Er fand alsdann, umgeben vom Ringen der
Politien um die Herrſchaft und vom Kampf der Intereſſen, die
höchſte Koncentration aller Einzelintereſſen und Einzelkräfte in dem
von ihm entworfenen einſichtigen, einheitlichen Staatswillen noth-
wendig; daher ſtattete er ſeinen idealen Staat mit den äußerſten
Mitteln aus, welche in dem Bereich des ohnehin mit dem Eigen-
thum wie mit der Freiheit in künſtleriſcher Machtvollkommenheit
ſchaltenden griechiſchen Staates lagen, um dieſe Unterordnung der
Einzelwillen, der Einzelintereſſen unter die leitende Vernunft her-
zuſtellen. So entſteht eine Gliederung, in welcher die Einſichtigen
regieren, die Starken ſie unterſtützen, die im Erwerb verſunkene
Maſſe gehorcht: ein Abbild der Pſyche. Die Tugenden der Theile
der Seele ſind die der Stände des Staates. Wie das Streben
nach dem Guten in der Beziehung der Pſyche zu der Ideenwelt
gegründet iſt, ſo geſtaltet daſſelbe auch im Zuſammenhang mit der
Ideenwelt das Ideal eines geſellſchaftlichen Kosmos, den Staat,
als eine zwar entſtandene, aber durch die Abmeſſung der Kräfte in
den Seelen unzerreißbar gefügte Einheit. Die politiſche Kunſt ge-

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[285/0308] Die Staatswiſſenſchaft der ſokratiſchen Schule. in Gegenſatz zu der herrſchenden Demokratie und zu der Gleich- berechtigung jedes geſellſchaftlichen Atoms in Bezug auf die Leitung des Staates, welche dieſe Demokratie am ſchroffſten in der Zu- theilung von Staatsämtern durch das Loos ausdrückte. Das Wiſſen macht zum Herrſcher; es iſt die Vorbedingung des An- theiles an der Staatsleitung. Platos großer organiſatoriſcher Geiſt konſtruirt von dieſem Gedanken aus den idealen Staat als ein Gegenbild des äußeren Kosmos, den Staat als Kunſtwerk. Er fand die atheniſche Geſellſchaft in ſoziale Atome aufgelöſt; ſo faßte er den Gedanken, die Beziehung zwiſchen politiſchem Wiſſen und Können und dem Antheil an der Staatsleitung nicht in das vorhandene politiſche Gefüge einzuordnen, ſondern von dieſem abſtrakten Ver- hältniß aus den Staat zu konſtruiren; bei den neueren Völkern hat dann dieſer Gedanke auf die vorhandene Realität der Staats- ordnungen fortbildend eingewirkt, und ſo erſcheint Plato als weis- ſagender Genius in Bezug auf weſentliche Züge des modernen Beamtenſtaates. Er fand alsdann, umgeben vom Ringen der Politien um die Herrſchaft und vom Kampf der Intereſſen, die höchſte Koncentration aller Einzelintereſſen und Einzelkräfte in dem von ihm entworfenen einſichtigen, einheitlichen Staatswillen noth- wendig; daher ſtattete er ſeinen idealen Staat mit den äußerſten Mitteln aus, welche in dem Bereich des ohnehin mit dem Eigen- thum wie mit der Freiheit in künſtleriſcher Machtvollkommenheit ſchaltenden griechiſchen Staates lagen, um dieſe Unterordnung der Einzelwillen, der Einzelintereſſen unter die leitende Vernunft her- zuſtellen. So entſteht eine Gliederung, in welcher die Einſichtigen regieren, die Starken ſie unterſtützen, die im Erwerb verſunkene Maſſe gehorcht: ein Abbild der Pſyche. Die Tugenden der Theile der Seele ſind die der Stände des Staates. Wie das Streben nach dem Guten in der Beziehung der Pſyche zu der Ideenwelt gegründet iſt, ſo geſtaltet daſſelbe auch im Zuſammenhang mit der Ideenwelt das Ideal eines geſellſchaftlichen Kosmos, den Staat, als eine zwar entſtandene, aber durch die Abmeſſung der Kräfte in den Seelen unzerreißbar gefügte Einheit. Die politiſche Kunſt ge-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/308>, abgerufen am 22.11.2024.