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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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D. Naturr. e. Metaph. d. Gesellsch.; d. Einzelwissensch. d. Gesellsch. fehlen.
theil. Doch können wir auch hier ein Verhältniß noch feststellen,
welches dem an der Naturwissenschaft derselben Zeit beobachteten
analog ist 1). Das Naturrecht ging von den psychischen Ein-
heiten aus und beabsichtigte eine Erklärung der bürgerlichen
Gesellschaft, wie eine einzelne polis sie umschließt; denn dieser
konkrete politische Körper bildet den Gegenstand der griechischen
politischen Wissenschaft. Nun sind die psychologischen Grundvor-
stellungen von Interesse, Befriedigung, Nutzen, deren sich das sophi-
stische Naturrecht bedient, höchst unvollkommen. Zwischen den
psychologischen Grundvorstellungen und der komplexen Thatsache
dieses politischen Ganzen liegen alsdann Zwischenglieder, wie
Arbeitstheilung, Nationalreichthum, Stufen des wissenschaftlichen
Lebens, Formen des Familienrechts und der Eigenthumsordnung,
religiöser Glaube und seine selbständige Kraft etc., deren wissenschaft-
liche Bearbeitung erst das exakt wissenschaftliche Studium des kom-
plexen politischen Ganzen bedingt. Diese Thatsachen können aber nur
durch abstrakte Wissenschaften bearbeitet werden, welche verwandte
Theilinhalte des psychischen Lebens, wie sie die Gesellschaft enthält,
zusammenordnen; dies ist im ersten Buche gezeigt worden. Während
nun die entsprechenden abstrakten Wissenschaften innerhalb der Natur-
forschung erst in der alexandrinischen Zeit in sehr vereinzelten An-
sätzen sich zu bilden begannen, bestanden die technischen Theorien der
Grammatik, Logik, Rhetorik, Poetik, Nationalökonomie, juristischen
Technik schon früh; das Bedürfniß der Gesellschaft hatte sie hervor-
gebracht, wie auch dies das erste Buch gezeigt hat. Trotzdem
haben die Vorstellungen der Griechen über Arbeitstheilung, über
die Faktoren des Nationalreichthums, über das Geld niemals eine
erheblich höhere Stufe erreicht als die über Druck, Bewegung und
Schwere, und die Griechen haben innerhalb dieser Spekulationen,
so weit wir sehen, niemals von exakten juristischen Begriffen Gebrauch
gemacht. Daher war ihre naturrechtliche Konstruktion der Gesell-
schaft ganz ebenso zu einer verhältnißmäßigen Unfruchtbarkeit ver-
urtheilt wie ihre atomistische Konstruktion des Kosmos. Auch auf

1) Vgl. S. 212 ff. 245.

D. Naturr. e. Metaph. d. Geſellſch.; d. Einzelwiſſenſch. d. Geſellſch. fehlen.
theil. Doch können wir auch hier ein Verhältniß noch feſtſtellen,
welches dem an der Naturwiſſenſchaft derſelben Zeit beobachteten
analog iſt 1). Das Naturrecht ging von den pſychiſchen Ein-
heiten aus und beabſichtigte eine Erklärung der bürgerlichen
Geſellſchaft, wie eine einzelne πόλις ſie umſchließt; denn dieſer
konkrete politiſche Körper bildet den Gegenſtand der griechiſchen
politiſchen Wiſſenſchaft. Nun ſind die pſychologiſchen Grundvor-
ſtellungen von Intereſſe, Befriedigung, Nutzen, deren ſich das ſophi-
ſtiſche Naturrecht bedient, höchſt unvollkommen. Zwiſchen den
pſychologiſchen Grundvorſtellungen und der komplexen Thatſache
dieſes politiſchen Ganzen liegen alsdann Zwiſchenglieder, wie
Arbeitstheilung, Nationalreichthum, Stufen des wiſſenſchaftlichen
Lebens, Formen des Familienrechts und der Eigenthumsordnung,
religiöſer Glaube und ſeine ſelbſtändige Kraft etc., deren wiſſenſchaft-
liche Bearbeitung erſt das exakt wiſſenſchaftliche Studium des kom-
plexen politiſchen Ganzen bedingt. Dieſe Thatſachen können aber nur
durch abſtrakte Wiſſenſchaften bearbeitet werden, welche verwandte
Theilinhalte des pſychiſchen Lebens, wie ſie die Geſellſchaft enthält,
zuſammenordnen; dies iſt im erſten Buche gezeigt worden. Während
nun die entſprechenden abſtrakten Wiſſenſchaften innerhalb der Natur-
forſchung erſt in der alexandriniſchen Zeit in ſehr vereinzelten An-
ſätzen ſich zu bilden begannen, beſtanden die techniſchen Theorien der
Grammatik, Logik, Rhetorik, Poetik, Nationalökonomie, juriſtiſchen
Technik ſchon früh; das Bedürfniß der Geſellſchaft hatte ſie hervor-
gebracht, wie auch dies das erſte Buch gezeigt hat. Trotzdem
haben die Vorſtellungen der Griechen über Arbeitstheilung, über
die Faktoren des Nationalreichthums, über das Geld niemals eine
erheblich höhere Stufe erreicht als die über Druck, Bewegung und
Schwere, und die Griechen haben innerhalb dieſer Spekulationen,
ſo weit wir ſehen, niemals von exakten juriſtiſchen Begriffen Gebrauch
gemacht. Daher war ihre naturrechtliche Konſtruktion der Geſell-
ſchaft ganz ebenſo zu einer verhältnißmäßigen Unfruchtbarkeit ver-
urtheilt wie ihre atomiſtiſche Konſtruktion des Kosmos. Auch auf

1) Vgl. S. 212 ff. 245.
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[283/0306] D. Naturr. e. Metaph. d. Geſellſch.; d. Einzelwiſſenſch. d. Geſellſch. fehlen. theil. Doch können wir auch hier ein Verhältniß noch feſtſtellen, welches dem an der Naturwiſſenſchaft derſelben Zeit beobachteten analog iſt 1). Das Naturrecht ging von den pſychiſchen Ein- heiten aus und beabſichtigte eine Erklärung der bürgerlichen Geſellſchaft, wie eine einzelne πόλις ſie umſchließt; denn dieſer konkrete politiſche Körper bildet den Gegenſtand der griechiſchen politiſchen Wiſſenſchaft. Nun ſind die pſychologiſchen Grundvor- ſtellungen von Intereſſe, Befriedigung, Nutzen, deren ſich das ſophi- ſtiſche Naturrecht bedient, höchſt unvollkommen. Zwiſchen den pſychologiſchen Grundvorſtellungen und der komplexen Thatſache dieſes politiſchen Ganzen liegen alsdann Zwiſchenglieder, wie Arbeitstheilung, Nationalreichthum, Stufen des wiſſenſchaftlichen Lebens, Formen des Familienrechts und der Eigenthumsordnung, religiöſer Glaube und ſeine ſelbſtändige Kraft etc., deren wiſſenſchaft- liche Bearbeitung erſt das exakt wiſſenſchaftliche Studium des kom- plexen politiſchen Ganzen bedingt. Dieſe Thatſachen können aber nur durch abſtrakte Wiſſenſchaften bearbeitet werden, welche verwandte Theilinhalte des pſychiſchen Lebens, wie ſie die Geſellſchaft enthält, zuſammenordnen; dies iſt im erſten Buche gezeigt worden. Während nun die entſprechenden abſtrakten Wiſſenſchaften innerhalb der Natur- forſchung erſt in der alexandriniſchen Zeit in ſehr vereinzelten An- ſätzen ſich zu bilden begannen, beſtanden die techniſchen Theorien der Grammatik, Logik, Rhetorik, Poetik, Nationalökonomie, juriſtiſchen Technik ſchon früh; das Bedürfniß der Geſellſchaft hatte ſie hervor- gebracht, wie auch dies das erſte Buch gezeigt hat. Trotzdem haben die Vorſtellungen der Griechen über Arbeitstheilung, über die Faktoren des Nationalreichthums, über das Geld niemals eine erheblich höhere Stufe erreicht als die über Druck, Bewegung und Schwere, und die Griechen haben innerhalb dieſer Spekulationen, ſo weit wir ſehen, niemals von exakten juriſtiſchen Begriffen Gebrauch gemacht. Daher war ihre naturrechtliche Konſtruktion der Geſell- ſchaft ganz ebenſo zu einer verhältnißmäßigen Unfruchtbarkeit ver- urtheilt wie ihre atomiſtiſche Konſtruktion des Kosmos. Auch auf 1) Vgl. S. 212 ff. 245.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/306>, abgerufen am 22.11.2024.