Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. Griechen zuerst einen dauernden, künstlerisch mächtigen, wissen-schaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde sie erst für die europäische politische Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb. Diese Bedeutung der politischen Literatur der Griechen ist unzer- störbar. Sie wird nur sehr vermindert durch eine Einseitigkeit ihrer politischen Auffassung, welche wir bald erörtern werden und die sich ebenfalls auf das neuere politische Leben übertragen hat. Die ersten Anfänge dieser Literatur gewahren wir in den Die griechische Auffassung der gesellschaftlichen Ordnung trat Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen-ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb. Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer- ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat. Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0299" n="276"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen-<lb/> ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die<lb/> europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb.<lb/> Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer-<lb/> ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit<lb/> ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und<lb/> die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat.</p><lb/> <p>Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den<lb/> großen Seeſtädten, deren politiſche, ſoziale und intellektuelle Ent-<lb/> wicklung ſehr raſch verlief. Hier entſtand das Bedürfniß, den<lb/> mythiſchen Glauben an die geſellſchaftliche Ordnung durch eine<lb/><hi rendition="#g">metaphyſiſche Begründung</hi> zu erſetzen. Und zwar begann<lb/> eine ſolche erſte theoretiſche Betrachtung der Geſellſchaft, indem<lb/> die ſoziale Ordnung als ſolche mit dem metaphyſiſchen Zuſammen-<lb/> hang des Weltganzen in Beziehung geſetzt wurde. Heraklit iſt der<lb/> mächtigſte Repräſentant dieſer metaphyſiſchen Begründung der ge-<lb/> ſellſchaftlichen Ordnung; aber auch die Reſte der pythagoreiſchen<lb/> Ideen deuten auf eine ſolche, obwohl dieſelbe augenſcheinlich mit<lb/> mythiſchen Beſtandtheilen ſehr verſetzt war.</p><lb/> <p>Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat<lb/> in ein neues Stadium in dem Zeitalter der <hi rendition="#g">Sophiſten</hi>. Das<lb/> Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt<lb/> dieſer großen intellektuellen Umwälzung. Indeſſen wäre es irrig,<lb/> den Stand der Sophiſten (mit welchem Namen zunächſt ein<lb/> verändertes Unterrichtsſyſtem in Griechenland, nicht eine Ver-<lb/> änderung der Philoſophie bezeichnet wurde) für den Wechſel in<lb/> den politiſchen Vorſtellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich<lb/> zu machen. Die Theorien der Sophiſten folgen nur einer gänz-<lb/> lichen Veränderung der ſozialen Gefühle und ſind ihr Ausdruck.<lb/> Dieſe wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerſtörung der<lb/> alten Geſchlechterverfaſſung, in welcher das Individuum noch als<lb/> Beſtandtheil einer Gliederung der Geſellſchaft ſich gefühlt hatte und<lb/> von der es nach ſeinen weſentlichen Lebensbeziehungen umfaßt<lb/> worden war. Noch die Tragödie des <hi rendition="#g">Aeſchylus</hi> geſtaltete darum<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [276/0299]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Griechen zuerſt einen dauernden, künſtleriſch mächtigen, wiſſen-
ſchaftlich begründeten Ausdruck. Hierdurch wurde ſie erſt für die
europäiſche politiſche Entwicklung ein unvergänglicher Erwerb.
Dieſe Bedeutung der politiſchen Literatur der Griechen iſt unzer-
ſtörbar. Sie wird nur ſehr vermindert durch eine Einſeitigkeit
ihrer politiſchen Auffaſſung, welche wir bald erörtern werden und
die ſich ebenfalls auf das neuere politiſche Leben übertragen hat.
Die erſten Anfänge dieſer Literatur gewahren wir in den
großen Seeſtädten, deren politiſche, ſoziale und intellektuelle Ent-
wicklung ſehr raſch verlief. Hier entſtand das Bedürfniß, den
mythiſchen Glauben an die geſellſchaftliche Ordnung durch eine
metaphyſiſche Begründung zu erſetzen. Und zwar begann
eine ſolche erſte theoretiſche Betrachtung der Geſellſchaft, indem
die ſoziale Ordnung als ſolche mit dem metaphyſiſchen Zuſammen-
hang des Weltganzen in Beziehung geſetzt wurde. Heraklit iſt der
mächtigſte Repräſentant dieſer metaphyſiſchen Begründung der ge-
ſellſchaftlichen Ordnung; aber auch die Reſte der pythagoreiſchen
Ideen deuten auf eine ſolche, obwohl dieſelbe augenſcheinlich mit
mythiſchen Beſtandtheilen ſehr verſetzt war.
Die griechiſche Auffaſſung der geſellſchaftlichen Ordnung trat
in ein neues Stadium in dem Zeitalter der Sophiſten. Das
Auftreten von Protagoras und Gorgias bildet den Anfangspunkt
dieſer großen intellektuellen Umwälzung. Indeſſen wäre es irrig,
den Stand der Sophiſten (mit welchem Namen zunächſt ein
verändertes Unterrichtsſyſtem in Griechenland, nicht eine Ver-
änderung der Philoſophie bezeichnet wurde) für den Wechſel in
den politiſchen Vorſtellungen, welcher nun eintrat, verantwortlich
zu machen. Die Theorien der Sophiſten folgen nur einer gänz-
lichen Veränderung der ſozialen Gefühle und ſind ihr Ausdruck.
Dieſe wurde hervorgerufen durch die allmähliche Zerſtörung der
alten Geſchlechterverfaſſung, in welcher das Individuum noch als
Beſtandtheil einer Gliederung der Geſellſchaft ſich gefühlt hatte und
von der es nach ſeinen weſentlichen Lebensbeziehungen umfaßt
worden war. Noch die Tragödie des Aeſchylus geſtaltete darum
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |