Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. Kosmos gebunden; er wird von ihnen nicht wirklich losgelöst,so wenig, wie die Analysis des Denkens in der Logik des Aristo- teles hinter die Formen desselben zurückgeht. So entspringt seine Unterscheidung der vollkommenen, in sich zurückkehrenden Kreis- bewegung von einer gradlinigen, welche in ihrem Endpunkt erlischt. Dieser Auffassung ist das Gedankenmäßige der Kreisbewegung ein Ursprüngliches, ja in der Gottheit unmittelbar Bedingtes. Sie hat den verhängnißvollen Gegensatz der Naturformen unter dem Monde von denen jenseit desselben begründet, und so lange er die Ge- müther beherrschte, bestand keine Möglichkeit einer Mechanik des Himmels. Dies ist das Bezeichnende gerade der erfolgreichen Richtungen des griechischen Naturstudiums: es bleibt an die An- schauung mathematischer Schönheit und innerer Zweckmäßigkeit in den kosmischen Formen gebunden. Zwar zerlegt es die zusammengesetzten Formen der Bewegung in einfachere, aber in diesen einfacheren bleibt der zweckmäßige, ästhetische Charakter der Form erhalten. So will Aristoteles zwar die Bewegung im Weltall (welcher Metaphysik und Naturwissenschaft. Die Leistungen einer solchen Naturerklärung sind durch diesen Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Kosmos gebunden; er wird von ihnen nicht wirklich losgelöſt,ſo wenig, wie die Analyſis des Denkens in der Logik des Ariſto- teles hinter die Formen deſſelben zurückgeht. So entſpringt ſeine Unterſcheidung der vollkommenen, in ſich zurückkehrenden Kreis- bewegung von einer gradlinigen, welche in ihrem Endpunkt erliſcht. Dieſer Auffaſſung iſt das Gedankenmäßige der Kreisbewegung ein Urſprüngliches, ja in der Gottheit unmittelbar Bedingtes. Sie hat den verhängnißvollen Gegenſatz der Naturformen unter dem Monde von denen jenſeit deſſelben begründet, und ſo lange er die Ge- müther beherrſchte, beſtand keine Möglichkeit einer Mechanik des Himmels. Dies iſt das Bezeichnende gerade der erfolgreichen Richtungen des griechiſchen Naturſtudiums: es bleibt an die An- ſchauung mathematiſcher Schönheit und innerer Zweckmäßigkeit in den kosmiſchen Formen gebunden. Zwar zerlegt es die zuſammengeſetzten Formen der Bewegung in einfachere, aber in dieſen einfacheren bleibt der zweckmäßige, äſthetiſche Charakter der Form erhalten. So will Ariſtoteles zwar die Bewegung im Weltall (welcher Metaphyſik und Naturwiſſenſchaft. Die Leiſtungen einer ſolchen Naturerklärung ſind durch dieſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0285" n="262"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> Kosmos gebunden; er wird von ihnen nicht wirklich losgelöſt,<lb/> ſo wenig, wie die Analyſis des Denkens in der Logik des Ariſto-<lb/> teles hinter die Formen deſſelben zurückgeht. So entſpringt ſeine<lb/> Unterſcheidung der vollkommenen, in ſich zurückkehrenden Kreis-<lb/> bewegung von einer gradlinigen, welche in ihrem Endpunkt erliſcht.<lb/> Dieſer Auffaſſung iſt das Gedankenmäßige der Kreisbewegung ein<lb/> Urſprüngliches, ja in der Gottheit unmittelbar Bedingtes. Sie hat<lb/> den verhängnißvollen Gegenſatz der Naturformen unter dem Monde<lb/> von denen jenſeit deſſelben begründet, und ſo lange er die Ge-<lb/> müther beherrſchte, beſtand keine Möglichkeit einer Mechanik des<lb/> Himmels. 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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Kosmos gebunden; er wird von ihnen nicht wirklich losgelöſt,
ſo wenig, wie die Analyſis des Denkens in der Logik des Ariſto-
teles hinter die Formen deſſelben zurückgeht. So entſpringt ſeine
Unterſcheidung der vollkommenen, in ſich zurückkehrenden Kreis-
bewegung von einer gradlinigen, welche in ihrem Endpunkt erliſcht.
Dieſer Auffaſſung iſt das Gedankenmäßige der Kreisbewegung ein
Urſprüngliches, ja in der Gottheit unmittelbar Bedingtes. Sie hat
den verhängnißvollen Gegenſatz der Naturformen unter dem Monde
von denen jenſeit deſſelben begründet, und ſo lange er die Ge-
müther beherrſchte, beſtand keine Möglichkeit einer Mechanik des
Himmels. Dies iſt das Bezeichnende gerade der erfolgreichen
Richtungen des griechiſchen Naturſtudiums: es bleibt an die An-
ſchauung mathematiſcher Schönheit und innerer Zweckmäßigkeit in den
kosmiſchen Formen gebunden. Zwar zerlegt es die zuſammengeſetzten
Formen der Bewegung in einfachere, aber in dieſen einfacheren
bleibt der zweckmäßige, äſthetiſche Charakter der Form erhalten.
So will Ariſtoteles zwar die Bewegung im Weltall (welcher
er in ächt griechiſchem Geiſte auch die qualitative Veränderung
einordnet) auf ihre Urſachen zurückführen; da aber alle bewegende
Kraft ihm zweckmäßige Aktion iſt, welche die Form realiſirt, ja
ihm in der Form die Urſache der Bewegung liegt: ſo iſt immer
nur die in der Form enthaltene Kraft, welche Entwicklung her-
vorbringt, Urſache einer ihr gleichartigen Form. Daher iſt dieſe
Erklärung in einen Zauberkreis gebannt, innerhalb deſſen die
Formen immer ſchon da ſind, um deren Erklärung es ſich
eigentlich handelt: ſie ſind die Kräfte, welche das Leben im
Weltall hervorbringen: ſie führen folgerichtig auf eine erſte, be-
wegende Kraft zurück.
Metaphyſik und Naturwiſſenſchaft.
Die Leiſtungen einer ſolchen Naturerklärung ſind durch dieſen
ihren Charakter beſtimmt. Wie die platoniſche Schule ein Mittel-
punkt für mathematiſche Forſchung war, ſo wurde es nun die
ariſtoteliſche für die beſchreibenden und vergleichenden
Wiſſenſchaften. Gerade weil die Bedeutung dieſer ariſtote-
liſchen Schule für den Fortſchritt der Wiſſenſchaften ſo unermeß-
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Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/285>, abgerufen am 19.07.2024. |