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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Die Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Bewegung und Ruhe, Ding
und Eigenschaft, Ursache und Wirkung, Form und Materie: dies
sind alles allgemeine Bestandtheile, welche wir an jedem Punkte
der Außenwelt antreffen und die also in unserem Bewußtsein
von äußerer Wirklichkeit
überhaupt enthalten sind. Un-
abhängig von dem Unterschied philosophischer Standpunkte ergiebt
sich nun hieraus die Frage: wird die Klarheit über diese
Elemente, isolirt von der Untersuchung des Bewußt-
seins
und der in ihm gegebenen allgemeinen Bedingungen aller
Wirklichkeit, erreicht werden können? Der Verlauf der Geschichte
der Metaphysik selber mag allmählich auf diese Frage antworten.
Zunächst stellen sich einer solchen Erwägung die einfachen Begriffe
von Sein und Substanz dar.

1. Die metaphysische Analysis des Aristoteles findet überall
Substanzen mit ihren Zuständen, die in Beziehungen zu einander
stehen 1); hier sind wir im Mittelpunkt der metaphysischen Schriften
des Aristoteles.

"Eine Wissenschaft existirt, welche das Seiende als Seien-
des (to on e on) und dessen grundwesentliche Eigenschaften unter-
sucht. Sie ist nicht mit irgend einer der Fachwissenschaften iden-
tisch; denn keine von diesen anderen Wissenschaften stellt im allge-
meinen Untersuchungen über das Seiende als Seiendes an, sondern
indem sie einen Theil desselben abschneiden, untersuchen sie dessen
besondere Beschaffenheit 2)." Die Mathematik hat das Seiende als
Zahl, Linie oder Fläche, die Physik als Bewegung, Element zum
Gegenstande; die erste Philosophie betrachtet es, wie es überall
dasselbe ist: das Seiende als solches.

Nun wird dieser Begriff des Seienden (des Gegenstandes
der Metaphysik) in mehrfacher Bedeutung gebraucht; die Sub-
stanz (ousia) wird so gut mit diesem Namen bezeichnet wie die
Qualität einer solchen. Immer aber steht der Begriff des Seienden

1) Ueber diese Dreitheilung in ousia, pathos und pros ti s. Prantl
Gesch. der Logik I, 190.
2) Arist. Metaph. IV, 1 p. 1003 a 21.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Die Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Bewegung und Ruhe, Ding
und Eigenſchaft, Urſache und Wirkung, Form und Materie: dies
ſind alles allgemeine Beſtandtheile, welche wir an jedem Punkte
der Außenwelt antreffen und die alſo in unſerem Bewußtſein
von äußerer Wirklichkeit
überhaupt enthalten ſind. Un-
abhängig von dem Unterſchied philoſophiſcher Standpunkte ergiebt
ſich nun hieraus die Frage: wird die Klarheit über dieſe
Elemente, iſolirt von der Unterſuchung des Bewußt-
ſeins
und der in ihm gegebenen allgemeinen Bedingungen aller
Wirklichkeit, erreicht werden können? Der Verlauf der Geſchichte
der Metaphyſik ſelber mag allmählich auf dieſe Frage antworten.
Zunächſt ſtellen ſich einer ſolchen Erwägung die einfachen Begriffe
von Sein und Subſtanz dar.

1. Die metaphyſiſche Analyſis des Ariſtoteles findet überall
Subſtanzen mit ihren Zuſtänden, die in Beziehungen zu einander
ſtehen 1); hier ſind wir im Mittelpunkt der metaphyſiſchen Schriften
des Ariſtoteles.

„Eine Wiſſenſchaft exiſtirt, welche das Seiende als Seien-
des (τὸ ὂν ᾗ ὄν) und deſſen grundweſentliche Eigenſchaften unter-
ſucht. Sie iſt nicht mit irgend einer der Fachwiſſenſchaften iden-
tiſch; denn keine von dieſen anderen Wiſſenſchaften ſtellt im allge-
meinen Unterſuchungen über das Seiende als Seiendes an, ſondern
indem ſie einen Theil deſſelben abſchneiden, unterſuchen ſie deſſen
beſondere Beſchaffenheit 2).“ Die Mathematik hat das Seiende als
Zahl, Linie oder Fläche, die Phyſik als Bewegung, Element zum
Gegenſtande; die erſte Philoſophie betrachtet es, wie es überall
daſſelbe iſt: das Seiende als ſolches.

Nun wird dieſer Begriff des Seienden (des Gegenſtandes
der Metaphyſik) in mehrfacher Bedeutung gebraucht; die Sub-
ſtanz (οὐσία) wird ſo gut mit dieſem Namen bezeichnet wie die
Qualität einer ſolchen. Immer aber ſteht der Begriff des Seienden

1) Ueber dieſe Dreitheilung in οὐσία, πάϑος und πϱός τι ſ. Prantl
Geſch. der Logik I, 190.
2) Ariſt. Metaph. IV, 1 p. 1003 a 21.
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[254/0277] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Sinnesqualitäten, Raum, Zeit, Bewegung und Ruhe, Ding und Eigenſchaft, Urſache und Wirkung, Form und Materie: dies ſind alles allgemeine Beſtandtheile, welche wir an jedem Punkte der Außenwelt antreffen und die alſo in unſerem Bewußtſein von äußerer Wirklichkeit überhaupt enthalten ſind. Un- abhängig von dem Unterſchied philoſophiſcher Standpunkte ergiebt ſich nun hieraus die Frage: wird die Klarheit über dieſe Elemente, iſolirt von der Unterſuchung des Bewußt- ſeins und der in ihm gegebenen allgemeinen Bedingungen aller Wirklichkeit, erreicht werden können? Der Verlauf der Geſchichte der Metaphyſik ſelber mag allmählich auf dieſe Frage antworten. Zunächſt ſtellen ſich einer ſolchen Erwägung die einfachen Begriffe von Sein und Subſtanz dar. 1. Die metaphyſiſche Analyſis des Ariſtoteles findet überall Subſtanzen mit ihren Zuſtänden, die in Beziehungen zu einander ſtehen 1); hier ſind wir im Mittelpunkt der metaphyſiſchen Schriften des Ariſtoteles. „Eine Wiſſenſchaft exiſtirt, welche das Seiende als Seien- des (τὸ ὂν ᾗ ὄν) und deſſen grundweſentliche Eigenſchaften unter- ſucht. Sie iſt nicht mit irgend einer der Fachwiſſenſchaften iden- tiſch; denn keine von dieſen anderen Wiſſenſchaften ſtellt im allge- meinen Unterſuchungen über das Seiende als Seiendes an, ſondern indem ſie einen Theil deſſelben abſchneiden, unterſuchen ſie deſſen beſondere Beſchaffenheit 2).“ Die Mathematik hat das Seiende als Zahl, Linie oder Fläche, die Phyſik als Bewegung, Element zum Gegenſtande; die erſte Philoſophie betrachtet es, wie es überall daſſelbe iſt: das Seiende als ſolches. Nun wird dieſer Begriff des Seienden (des Gegenſtandes der Metaphyſik) in mehrfacher Bedeutung gebraucht; die Sub- ſtanz (οὐσία) wird ſo gut mit dieſem Namen bezeichnet wie die Qualität einer ſolchen. Immer aber ſteht der Begriff des Seienden 1) Ueber dieſe Dreitheilung in οὐσία, πάϑος und πϱός τι ſ. Prantl Geſch. der Logik I, 190. 2) Ariſt. Metaph. IV, 1 p. 1003 a 21.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/277>, abgerufen am 28.11.2024.