Führte nun Plato den Vorgang, in welchem wir den ideellen Gehalt des Kosmos gleichsam von ihm ablesen, vorzugsweise auf den angeborenen Besitz dieses Gehaltes zurück und ließ gegen diesen ursprünglichen Besitz den anderen Faktor des Vorgangs, die Erfahrung, zurücktreten, ja grenzte ihren Antheil nirgend klar ab: so erhalten hingegen bei Aristoteles äußere Wahrnehmung und Erfahrung eine hervorragende und äußerlich feste Stellung. Das Theorem des Entsprechens erstreckt sich bei ihm auch auf das Verhältniß der Wahrnehmung zu dem Wahrnehmbaren. Sonach mußte er die nun entstehende Schwierigkeit aufzulösen suchen, daß die menschliche Vernunft den Grund des Wissens von der Vernunftmäßigkeit des Kosmos in sich trägt, jedoch dies Wissen selber erst durch die Erfahrung erwirbt. Er besteht darauf, daß wir nicht ein Wissen von den Ideen besitzen können, ohne ein Bewußtsein dieses Wissens zu haben 1), und versucht die so auftretende Frage im Zusammenhang seiner Metaphysik durch den Begriff der Entwicklung zu lösen. In dem menschlichen Denken ist vor dem Erkenntnißvorgang die Möglichkeit (Dynamis) des unmittelbaren Wissens von den höchsten Prinzipien und sie gelangt in dem Erkenntnißvorgang selber zur Wirklichkeit 2). Die Aus- führung dieser erkenntniß-theoretischen Grundanschauung, so tiefe Blicke sie enthält, vermag den von Plato im Dunkel gelassenen Punkt, die Stellung der in der menschlichen Vernunft (dem Nus) gegebenen Bedingung der Erkenntniß zu der anderen in der Erfahrung liegenden nicht zu erhellen. Der einzelne Sinn entspricht den Gegenständen einer einzelnen Gattung; das Wahrnehmungsfähige ist (gemäß dem obigen allgemeinen Lösungsverfahren) der Möglich- keit nach so beschaffen, wie es der Wahrnehmungsgegenstand der Wirklichkeit nach ist 3); innerhalb seiner Objektssphäre gewahrt daher das gesunde Sinnesorgan das Wahre. Ja Aristoteles legt
1) So in der Polemik gegen die Ideenlehre Metaph. I, 9 p. 993 a 1.
2) Vgl. die Stellen sowie die nähere Darlegung bei Zeller II, 2 3, 188 ff.
3) to d aisthetikon dunamei estin oion to aistheton ede entelekheia de anima II, 5 p. 418 a 3.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Führte nun Plato den Vorgang, in welchem wir den ideellen Gehalt des Kosmos gleichſam von ihm ableſen, vorzugsweiſe auf den angeborenen Beſitz dieſes Gehaltes zurück und ließ gegen dieſen urſprünglichen Beſitz den anderen Faktor des Vorgangs, die Erfahrung, zurücktreten, ja grenzte ihren Antheil nirgend klar ab: ſo erhalten hingegen bei Ariſtoteles äußere Wahrnehmung und Erfahrung eine hervorragende und äußerlich feſte Stellung. Das Theorem des Entſprechens erſtreckt ſich bei ihm auch auf das Verhältniß der Wahrnehmung zu dem Wahrnehmbaren. Sonach mußte er die nun entſtehende Schwierigkeit aufzulöſen ſuchen, daß die menſchliche Vernunft den Grund des Wiſſens von der Vernunftmäßigkeit des Kosmos in ſich trägt, jedoch dies Wiſſen ſelber erſt durch die Erfahrung erwirbt. Er beſteht darauf, daß wir nicht ein Wiſſen von den Ideen beſitzen können, ohne ein Bewußtſein dieſes Wiſſens zu haben 1), und verſucht die ſo auftretende Frage im Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik durch den Begriff der Entwicklung zu löſen. In dem menſchlichen Denken iſt vor dem Erkenntnißvorgang die Möglichkeit (Dynamis) des unmittelbaren Wiſſens von den höchſten Prinzipien und ſie gelangt in dem Erkenntnißvorgang ſelber zur Wirklichkeit 2). Die Aus- führung dieſer erkenntniß-theoretiſchen Grundanſchauung, ſo tiefe Blicke ſie enthält, vermag den von Plato im Dunkel gelaſſenen Punkt, die Stellung der in der menſchlichen Vernunft (dem Nus) gegebenen Bedingung der Erkenntniß zu der anderen in der Erfahrung liegenden nicht zu erhellen. Der einzelne Sinn entſpricht den Gegenſtänden einer einzelnen Gattung; das Wahrnehmungsfähige iſt (gemäß dem obigen allgemeinen Löſungsverfahren) der Möglich- keit nach ſo beſchaffen, wie es der Wahrnehmungsgegenſtand der Wirklichkeit nach iſt 3); innerhalb ſeiner Objektsſphäre gewahrt daher das geſunde Sinnesorgan das Wahre. Ja Ariſtoteles legt
1) So in der Polemik gegen die Ideenlehre Metaph. I, 9 p. 993 a 1.
2) Vgl. die Stellen ſowie die nähere Darlegung bei Zeller II, 2 3, 188 ff.
3) τὸ δ̛ αἰσϑητικὸν δυνάμει ἐστὶν οἷον τὸ αἰσϑητὸν ἤδη ἐντελεχείᾳ de anima II, 5 p. 418 a 3.
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Führte nun Plato den Vorgang, in welchem wir den ideellen
Gehalt des Kosmos gleichſam von ihm ableſen, vorzugsweiſe auf
den angeborenen Beſitz dieſes Gehaltes zurück und ließ gegen
dieſen urſprünglichen Beſitz den anderen Faktor des Vorgangs,
die Erfahrung, zurücktreten, ja grenzte ihren Antheil nirgend klar
ab: ſo erhalten hingegen bei Ariſtoteles äußere Wahrnehmung
und Erfahrung eine hervorragende und äußerlich feſte Stellung.
Das Theorem des Entſprechens erſtreckt ſich bei ihm auch auf
das Verhältniß der Wahrnehmung zu dem Wahrnehmbaren.
Sonach mußte er die nun entſtehende Schwierigkeit aufzulöſen
ſuchen, daß die menſchliche Vernunft den Grund des Wiſſens von
der Vernunftmäßigkeit des Kosmos in ſich trägt, jedoch dies
Wiſſen ſelber erſt durch die Erfahrung erwirbt. Er beſteht darauf,
daß wir nicht ein Wiſſen von den Ideen beſitzen können, ohne
ein Bewußtſein dieſes Wiſſens zu haben 1), und verſucht die ſo
auftretende Frage im Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik durch den
Begriff der Entwicklung zu löſen. In dem menſchlichen Denken
iſt vor dem Erkenntnißvorgang die Möglichkeit (Dynamis) des
unmittelbaren Wiſſens von den höchſten Prinzipien und ſie gelangt
in dem Erkenntnißvorgang ſelber zur Wirklichkeit 2). Die Aus-
führung dieſer erkenntniß-theoretiſchen Grundanſchauung, ſo tiefe
Blicke ſie enthält, vermag den von Plato im Dunkel gelaſſenen
Punkt, die Stellung der in der menſchlichen Vernunft (dem Nus)
gegebenen Bedingung der Erkenntniß zu der anderen in der Erfahrung
liegenden nicht zu erhellen. Der einzelne Sinn entſpricht den
Gegenſtänden einer einzelnen Gattung; das Wahrnehmungsfähige
iſt (gemäß dem obigen allgemeinen Löſungsverfahren) der Möglich-
keit nach ſo beſchaffen, wie es der Wahrnehmungsgegenſtand der
Wirklichkeit nach iſt 3); innerhalb ſeiner Objektsſphäre gewahrt
daher das geſunde Sinnesorgan das Wahre. Ja Ariſtoteles legt
1) So in der Polemik gegen die Ideenlehre Metaph. I, 9 p. 993 a 1.
2) Vgl. die Stellen ſowie die nähere Darlegung bei Zeller II, 2 3, 188 ff.
3) τὸ δ̛ αἰσϑητικὸν δυνάμει ἐστὶν οἷον τὸ αἰσϑητὸν ἤδη ἐντελεχείᾳ
de anima II, 5 p. 418 a 3.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/267>, abgerufen am 27.11.2024.
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