In einem grandiosen Gleichniß ist dieser Zusammenhang von Plato dargestellt worden. Die Idee des Guten ist die Königin der geistigen Welt, wie die Sonne die der sichtbaren. Der Gesichts- sinn für sich ermöglicht nicht das Wirkliche zu sehen, sondern das Licht, das von der Sonne ausströmt, muß dasselbe offenbaren; daher sind der Gesichtssinn und das Wahrnehmbare durch das Band des Lichtes zum Sehen miteinander verbunden; dieselbe Sonne gewährt dem Sichtbaren auch seine Entstehung und sein Wachs- thum. So ist die Idee des Guten das geheimnißvolle, aber reale Band des Kosmos. In diesem Gleichniß ist der Zusammenhang ausgedrückt, in welchem die Metaphysik den letzten Grund des Erkennens mit der letzten Ursache der Wirklichkeit verknüpft.
Und hier nehmen wir den Faden der Geschichte des meta- physischen Schlußverfahrens aus astronomischen Thatsachen wieder auf. Dieses Schlußverfahren vermittelt in Platos System eine Vorstellung vom Wirken der Ideenwelt, welche freilich nur den Werth eines Mythus hat. Mathematik und Astronomie sind noch für Plato die einzigen Wissenschaften des Kosmos, und auch er schließt in erster Linie aus der gedankenmäßigen An- ordnung der Gestirnwelt, deren Ausdruck ihre Schönheit ist, auf die vernünftige Ursache derselben. "Zu sagen aber, daß Vernunft Alles anordnete, ziemt dem, der die Welt und Sonne, Mond und Sterne und den ganzen Umschwung anschaut" 1). Seinen näheren Schlüssen legt er folgende Theorie zu Grunde. Jede durch Stoß mitgetheilte Bewegung geht in Ruhe- zustand über. Dies wurde damals irrthümlich aus der Erfahrung von den Bewegungen gestoßener Körper abstrahirt; man sah jeden Körper auf der Erde nach einem einzelnen Anstoß in den Ruhe- stand zurückkehren und hatte noch von Reibung und Luftwider- stand keine Vorstellung. So wird allein der Seele die Fähigkeit zugeschrieben, von innen und daher dauernd zu bewegen, die Be- wegung bloßer Körper wird als mitgetheilt betrachtet und jede mit-
1) Plato Philebus 28 e vgl. 30 und besonders Timäus sowie Gesetze an verschiedenen Stellen.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
In einem grandioſen Gleichniß iſt dieſer Zuſammenhang von Plato dargeſtellt worden. Die Idee des Guten iſt die Königin der geiſtigen Welt, wie die Sonne die der ſichtbaren. Der Geſichts- ſinn für ſich ermöglicht nicht das Wirkliche zu ſehen, ſondern das Licht, das von der Sonne ausſtrömt, muß daſſelbe offenbaren; daher ſind der Geſichtsſinn und das Wahrnehmbare durch das Band des Lichtes zum Sehen miteinander verbunden; dieſelbe Sonne gewährt dem Sichtbaren auch ſeine Entſtehung und ſein Wachs- thum. So iſt die Idee des Guten das geheimnißvolle, aber reale Band des Kosmos. In dieſem Gleichniß iſt der Zuſammenhang ausgedrückt, in welchem die Metaphyſik den letzten Grund des Erkennens mit der letzten Urſache der Wirklichkeit verknüpft.
Und hier nehmen wir den Faden der Geſchichte des meta- phyſiſchen Schlußverfahrens aus aſtronomiſchen Thatſachen wieder auf. Dieſes Schlußverfahren vermittelt in Platos Syſtem eine Vorſtellung vom Wirken der Ideenwelt, welche freilich nur den Werth eines Mythus hat. Mathematik und Aſtronomie ſind noch für Plato die einzigen Wiſſenſchaften des Kosmos, und auch er ſchließt in erſter Linie aus der gedankenmäßigen An- ordnung der Geſtirnwelt, deren Ausdruck ihre Schönheit iſt, auf die vernünftige Urſache derſelben. „Zu ſagen aber, daß Vernunft Alles anordnete, ziemt dem, der die Welt und Sonne, Mond und Sterne und den ganzen Umſchwung anſchaut“ 1). Seinen näheren Schlüſſen legt er folgende Theorie zu Grunde. Jede durch Stoß mitgetheilte Bewegung geht in Ruhe- zuſtand über. Dies wurde damals irrthümlich aus der Erfahrung von den Bewegungen geſtoßener Körper abſtrahirt; man ſah jeden Körper auf der Erde nach einem einzelnen Anſtoß in den Ruhe- ſtand zurückkehren und hatte noch von Reibung und Luftwider- ſtand keine Vorſtellung. So wird allein der Seele die Fähigkeit zugeſchrieben, von innen und daher dauernd zu bewegen, die Be- wegung bloßer Körper wird als mitgetheilt betrachtet und jede mit-
1) Plato Philebus 28 e vgl. 30 und beſonders Timäus ſowie Geſetze an verſchiedenen Stellen.
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
In einem grandioſen Gleichniß iſt dieſer Zuſammenhang von
Plato dargeſtellt worden. Die Idee des Guten iſt die Königin
der geiſtigen Welt, wie die Sonne die der ſichtbaren. Der Geſichts-
ſinn für ſich ermöglicht nicht das Wirkliche zu ſehen, ſondern das
Licht, das von der Sonne ausſtrömt, muß daſſelbe offenbaren; daher
ſind der Geſichtsſinn und das Wahrnehmbare durch das Band
des Lichtes zum Sehen miteinander verbunden; dieſelbe Sonne
gewährt dem Sichtbaren auch ſeine Entſtehung und ſein Wachs-
thum. So iſt die Idee des Guten das geheimnißvolle, aber reale
Band des Kosmos. In dieſem Gleichniß iſt der Zuſammenhang
ausgedrückt, in welchem die Metaphyſik den letzten Grund des
Erkennens mit der letzten Urſache der Wirklichkeit verknüpft.
Und hier nehmen wir den Faden der Geſchichte des meta-
phyſiſchen Schlußverfahrens aus aſtronomiſchen Thatſachen
wieder auf. Dieſes Schlußverfahren vermittelt in Platos Syſtem
eine Vorſtellung vom Wirken der Ideenwelt, welche freilich nur
den Werth eines Mythus hat. Mathematik und Aſtronomie ſind
noch für Plato die einzigen Wiſſenſchaften des Kosmos, und auch
er ſchließt in erſter Linie aus der gedankenmäßigen An-
ordnung der Geſtirnwelt, deren Ausdruck ihre Schönheit
iſt, auf die vernünftige Urſache derſelben. „Zu ſagen
aber, daß Vernunft Alles anordnete, ziemt dem, der die Welt
und Sonne, Mond und Sterne und den ganzen Umſchwung
anſchaut“ 1). Seinen näheren Schlüſſen legt er folgende Theorie zu
Grunde. Jede durch Stoß mitgetheilte Bewegung geht in Ruhe-
zuſtand über. Dies wurde damals irrthümlich aus der Erfahrung
von den Bewegungen geſtoßener Körper abſtrahirt; man ſah jeden
Körper auf der Erde nach einem einzelnen Anſtoß in den Ruhe-
ſtand zurückkehren und hatte noch von Reibung und Luftwider-
ſtand keine Vorſtellung. So wird allein der Seele die Fähigkeit
zugeſchrieben, von innen und daher dauernd zu bewegen, die Be-
wegung bloßer Körper wird als mitgetheilt betrachtet und jede mit-
1) Plato Philebus 28 e vgl. 30 und beſonders Timäus ſowie Geſetze
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/263>, abgerufen am 27.11.2024.
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