Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Beweis aus dem sittlichen Bewußtsein hat dieselbe Voraussetzung.
Schlusses. Seine Erörterungen hierüber entwickeln wahrhaft tief-
sinnig den Gehalt unseres sittlichen Bewußtseins; so wird ein
neuer Kreis der wichtigsten Erfahrungen (vorbereitet von der so-
kratischen Schule) über den Horizont der philosophischen Besinnung
erhoben und bleibt fortan im Bewußtsein der Menschheit. -- Aber
wie in Socrates, stoßen wir an dieser Stelle auch in Plato
wieder an die der griechischen Geistesart eigenthümlichen Schranken.
Auch wo diesem gleichsam dem Kosmos eingeordneten Bewußt-
sein die Selbstbesinnung aufgeht, findet dieselbe nicht in unmittel-
barem Innewerden die Realität der Realitäten gegeben, das
willenerfüllte Ich, in welchem die ganze Welt erst da ist, nein:
Anschauung, welche ja nur in der Hingabe an das Angeschaute
existirt, bildende Kraft, welche das Geschaute an dem Stoffe der
Wirklichkeit gestaltet, das ist das Schema, unter welchem diese
Selbstbesinnung das Geistige und seinen Inhalt erblickt. Und wo
der skeptische Geist auf dieses Verhältniß zum Objekt verzichtet,
bleibt ihm nur "Enthaltung". Daher begreift Plato den selb-
ständigen Grund des Sittlichen nur als ein Anschauen der
Urbilder des Schönen und Guten. So ordnet sich der
Schluß aus dem sittlichen Bewußtsein auf Grund der angegebenen
Disjunktion zuletzt der Folgerung aus dem Wissen unter. Dieser
Schluß hat zunächst das Dasein des von der Lust unabhängigen
wesenhaften Sittlichen abgeleitet, und von diesem Ergebniß aus
erweist er alsdann, daß die Thatsache des Sittlichen die Urbilder
des Schönen und Guten zu ihrer Bedingung hat, auf welche
schauend wir handeln 1).


1) Es könnte gezeigt werden, wie jede strengere Begründung der Ideen-
lehre solchergestalt die Vorstellung der Berührung mit dem Gegenstande
(den unsinnlichen Ideen) in dem anschaulichen Denken voraussetzt. Und
mit diesem inneren Zusammenhang ihrer Begründung ist in Ueberein-
stimmung, daß der Phädrus aus ganz anderen, nämlich literarhistorischen
Gründen, welche von Schleiermacher, Spengel und Usener entwickelt worden
sind, als eine frühe Schrift Platos anerkannt werden muß, gerade diesen
Zusammenhang der Ideenlehre aber in einem ersten Wurfe enthält, und zwar
ausgehend von der Zurückführung des sittlichen Bewußtseins auf eine solche
Berührung.

Der Beweis aus dem ſittlichen Bewußtſein hat dieſelbe Vorausſetzung.
Schluſſes. Seine Erörterungen hierüber entwickeln wahrhaft tief-
ſinnig den Gehalt unſeres ſittlichen Bewußtſeins; ſo wird ein
neuer Kreis der wichtigſten Erfahrungen (vorbereitet von der ſo-
kratiſchen Schule) über den Horizont der philoſophiſchen Beſinnung
erhoben und bleibt fortan im Bewußtſein der Menſchheit. — Aber
wie in Socrates, ſtoßen wir an dieſer Stelle auch in Plato
wieder an die der griechiſchen Geiſtesart eigenthümlichen Schranken.
Auch wo dieſem gleichſam dem Kosmos eingeordneten Bewußt-
ſein die Selbſtbeſinnung aufgeht, findet dieſelbe nicht in unmittel-
barem Innewerden die Realität der Realitäten gegeben, das
willenerfüllte Ich, in welchem die ganze Welt erſt da iſt, nein:
Anſchauung, welche ja nur in der Hingabe an das Angeſchaute
exiſtirt, bildende Kraft, welche das Geſchaute an dem Stoffe der
Wirklichkeit geſtaltet, das iſt das Schema, unter welchem dieſe
Selbſtbeſinnung das Geiſtige und ſeinen Inhalt erblickt. Und wo
der ſkeptiſche Geiſt auf dieſes Verhältniß zum Objekt verzichtet,
bleibt ihm nur „Enthaltung“. Daher begreift Plato den ſelb-
ſtändigen Grund des Sittlichen nur als ein Anſchauen der
Urbilder des Schönen und Guten. So ordnet ſich der
Schluß aus dem ſittlichen Bewußtſein auf Grund der angegebenen
Disjunktion zuletzt der Folgerung aus dem Wiſſen unter. Dieſer
Schluß hat zunächſt das Daſein des von der Luſt unabhängigen
weſenhaften Sittlichen abgeleitet, und von dieſem Ergebniß aus
erweiſt er alsdann, daß die Thatſache des Sittlichen die Urbilder
des Schönen und Guten zu ihrer Bedingung hat, auf welche
ſchauend wir handeln 1).


1) Es könnte gezeigt werden, wie jede ſtrengere Begründung der Ideen-
lehre ſolchergeſtalt die Vorſtellung der Berührung mit dem Gegenſtande
(den unſinnlichen Ideen) in dem anſchaulichen Denken vorausſetzt. Und
mit dieſem inneren Zuſammenhang ihrer Begründung iſt in Ueberein-
ſtimmung, daß der Phädrus aus ganz anderen, nämlich literarhiſtoriſchen
Gründen, welche von Schleiermacher, Spengel und Uſener entwickelt worden
ſind, als eine frühe Schrift Platos anerkannt werden muß, gerade dieſen
Zuſammenhang der Ideenlehre aber in einem erſten Wurfe enthält, und zwar
ausgehend von der Zurückführung des ſittlichen Bewußtſeins auf eine ſolche
Berührung.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0262" n="239"/><fw place="top" type="header">Der Beweis aus dem &#x017F;ittlichen Bewußt&#x017F;ein hat die&#x017F;elbe Voraus&#x017F;etzung.</fw><lb/>
Schlu&#x017F;&#x017F;es. Seine Erörterungen hierüber entwickeln wahrhaft tief-<lb/>
&#x017F;innig den Gehalt un&#x017F;eres &#x017F;ittlichen Bewußt&#x017F;eins; &#x017F;o wird ein<lb/>
neuer Kreis der wichtig&#x017F;ten Erfahrungen (vorbereitet von der &#x017F;o-<lb/>
krati&#x017F;chen Schule) über den Horizont der philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Be&#x017F;innung<lb/>
erhoben und bleibt fortan im Bewußt&#x017F;ein der Men&#x017F;chheit. &#x2014; Aber<lb/>
wie in Socrates, &#x017F;toßen wir an die&#x017F;er Stelle auch in Plato<lb/>
wieder an die der griechi&#x017F;chen Gei&#x017F;tesart eigenthümlichen Schranken.<lb/>
Auch wo die&#x017F;em gleich&#x017F;am dem Kosmos eingeordneten Bewußt-<lb/>
&#x017F;ein die Selb&#x017F;tbe&#x017F;innung aufgeht, findet die&#x017F;elbe nicht in unmittel-<lb/>
barem Innewerden die Realität der Realitäten gegeben, das<lb/>
willenerfüllte Ich, in welchem die ganze Welt er&#x017F;t da i&#x017F;t, nein:<lb/>
An&#x017F;chauung, welche ja nur in der Hingabe an das Ange&#x017F;chaute<lb/>
exi&#x017F;tirt, bildende Kraft, welche das Ge&#x017F;chaute an dem Stoffe der<lb/>
Wirklichkeit ge&#x017F;taltet, das i&#x017F;t das Schema, unter welchem die&#x017F;e<lb/>
Selb&#x017F;tbe&#x017F;innung das Gei&#x017F;tige und &#x017F;einen Inhalt erblickt. Und wo<lb/>
der &#x017F;kepti&#x017F;che Gei&#x017F;t auf die&#x017F;es Verhältniß zum Objekt verzichtet,<lb/>
bleibt ihm nur &#x201E;Enthaltung&#x201C;. Daher begreift Plato den &#x017F;elb-<lb/>
&#x017F;tändigen Grund des Sittlichen nur als ein <hi rendition="#g">An&#x017F;chauen</hi> der<lb/><hi rendition="#g">Urbilder</hi> des <hi rendition="#g">Schönen</hi> und <hi rendition="#g">Guten</hi>. So ordnet &#x017F;ich der<lb/>
Schluß aus dem &#x017F;ittlichen Bewußt&#x017F;ein auf Grund der angegebenen<lb/>
Disjunktion zuletzt der Folgerung aus dem Wi&#x017F;&#x017F;en unter. Die&#x017F;er<lb/>
Schluß hat zunäch&#x017F;t das Da&#x017F;ein des von der Lu&#x017F;t unabhängigen<lb/>
we&#x017F;enhaften Sittlichen abgeleitet, und von die&#x017F;em Ergebniß aus<lb/>
erwei&#x017F;t er alsdann, daß die That&#x017F;ache des Sittlichen die Urbilder<lb/>
des Schönen und Guten zu ihrer Bedingung hat, auf welche<lb/>
&#x017F;chauend wir handeln <note place="foot" n="1)">Es könnte gezeigt werden, wie jede &#x017F;trengere Begründung der Ideen-<lb/>
lehre &#x017F;olcherge&#x017F;talt die Vor&#x017F;tellung der Berührung mit dem Gegen&#x017F;tande<lb/>
(den un&#x017F;innlichen Ideen) in dem <choice><sic>au&#x017F;chaulichen</sic><corr>an&#x017F;chaulichen</corr></choice> Denken voraus&#x017F;etzt. Und<lb/>
mit die&#x017F;em inneren Zu&#x017F;ammenhang ihrer Begründung i&#x017F;t in Ueberein-<lb/>
&#x017F;timmung, daß der Phädrus aus ganz anderen, nämlich literarhi&#x017F;tori&#x017F;chen<lb/>
Gründen, welche von Schleiermacher, Spengel und U&#x017F;ener entwickelt worden<lb/>
&#x017F;ind, als eine frühe Schrift Platos anerkannt werden muß, gerade die&#x017F;en<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang der Ideenlehre aber in einem er&#x017F;ten Wurfe enthält, und zwar<lb/>
ausgehend von der Zurückführung des &#x017F;ittlichen Bewußt&#x017F;eins auf eine &#x017F;olche<lb/>
Berührung.</note>.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0262] Der Beweis aus dem ſittlichen Bewußtſein hat dieſelbe Vorausſetzung. Schluſſes. Seine Erörterungen hierüber entwickeln wahrhaft tief- ſinnig den Gehalt unſeres ſittlichen Bewußtſeins; ſo wird ein neuer Kreis der wichtigſten Erfahrungen (vorbereitet von der ſo- kratiſchen Schule) über den Horizont der philoſophiſchen Beſinnung erhoben und bleibt fortan im Bewußtſein der Menſchheit. — Aber wie in Socrates, ſtoßen wir an dieſer Stelle auch in Plato wieder an die der griechiſchen Geiſtesart eigenthümlichen Schranken. Auch wo dieſem gleichſam dem Kosmos eingeordneten Bewußt- ſein die Selbſtbeſinnung aufgeht, findet dieſelbe nicht in unmittel- barem Innewerden die Realität der Realitäten gegeben, das willenerfüllte Ich, in welchem die ganze Welt erſt da iſt, nein: Anſchauung, welche ja nur in der Hingabe an das Angeſchaute exiſtirt, bildende Kraft, welche das Geſchaute an dem Stoffe der Wirklichkeit geſtaltet, das iſt das Schema, unter welchem dieſe Selbſtbeſinnung das Geiſtige und ſeinen Inhalt erblickt. Und wo der ſkeptiſche Geiſt auf dieſes Verhältniß zum Objekt verzichtet, bleibt ihm nur „Enthaltung“. Daher begreift Plato den ſelb- ſtändigen Grund des Sittlichen nur als ein Anſchauen der Urbilder des Schönen und Guten. So ordnet ſich der Schluß aus dem ſittlichen Bewußtſein auf Grund der angegebenen Disjunktion zuletzt der Folgerung aus dem Wiſſen unter. Dieſer Schluß hat zunächſt das Daſein des von der Luſt unabhängigen weſenhaften Sittlichen abgeleitet, und von dieſem Ergebniß aus erweiſt er alsdann, daß die Thatſache des Sittlichen die Urbilder des Schönen und Guten zu ihrer Bedingung hat, auf welche ſchauend wir handeln 1). 1) Es könnte gezeigt werden, wie jede ſtrengere Begründung der Ideen- lehre ſolchergeſtalt die Vorſtellung der Berührung mit dem Gegenſtande (den unſinnlichen Ideen) in dem anſchaulichen Denken vorausſetzt. Und mit dieſem inneren Zuſammenhang ihrer Begründung iſt in Ueberein- ſtimmung, daß der Phädrus aus ganz anderen, nämlich literarhiſtoriſchen Gründen, welche von Schleiermacher, Spengel und Uſener entwickelt worden ſind, als eine frühe Schrift Platos anerkannt werden muß, gerade dieſen Zuſammenhang der Ideenlehre aber in einem erſten Wurfe enthält, und zwar ausgehend von der Zurückführung des ſittlichen Bewußtſeins auf eine ſolche Berührung.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/262
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/262>, abgerufen am 27.11.2024.