Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
licher Gegenstand zukommen; bleibt doch der Begriff in der
Seele, während das Ding untergeht, sonach muß ihm ein
bleibender Gegenstand entsprechen. -- Oder er folgert mit Zu-
hilfenahme der eleatischen Sätze: ein Nichtseiendes ist nicht erkenn-
bar, und da die Vorstellung sich auf das bezieht, was Sein und
Nichtsein in sich vereinigt, so ist die Vorstellung nur theilweise
Erkenntniß; da nun im Begriff ein wahres Wissen gegeben ist, so
muß derselbe ein von dem Objekt der Vorstellung unterschiedenes
Objekt haben. -- Derselbe Zusammenhang von Wissen und Sein
wird dann auch von dem Begriff des Seins aus entwickelt:
das Ding stellt das, was in seinem Begriff enthalten ist, nicht
rein dar, sondern seine Prädikate sind relativ und wechselnd; also
hat es keine volle Wirklichkeit, sondern diese kommt nur dem
zu, was der Begriff ausdrückt; dieser aber kann aus keiner Wahr-
nehmung der Dinge abstrahirt werden.

So steht innerhalb des Umkreises der Selbstbesinnung,
welche mit der sokratischen Schule in die Metaphysik eintrat und
ihren Horizont erweiterte, gerade die Besinnung über das Wissen
im Vordergrund, indem vom Wissen aus auf seine Bedingung,
die Ideen geschlossen wird. Jedoch verbindet sich mit diesem
Schluß der aus dem Sittlichen. Denn die ganze Inhalt-
lichkeit der Menschennatur, wie dieser Geist von gewaltiger Realität
sie in sich erfuhr, ist ihm, als aus der Sinnlichkeit nicht ableitbar,
ein Beweis für ihren Zusammenhang mit einer höheren Welt.

Demgemäß hat der zweite Bestandtheil des für Platos
System grundlegenden disjunktiven Schlusses auf die Selbständig-
keit der Vernunft zu seinem Obersatz die Disjunktion: das Ziel
des Handelns für den Einzelnen ist entweder aus der Lust ab-
zuleiten oder aus einem von ihrer Vergänglichkeit abgesonderten,
selbständigen Grunde des Sittlichen; das Ziel des
Staatswillens ist entweder durch die einander bekämpfenden selbst-
süchtigen, auf Lust gerichteten Interessen entstanden oder in
einem von ihnen unabhängigen Wesenhaften gegründet. Platos
Polemik gegen die Sophistik schließt das erste Glied der Dis-
junktion aus, und diese Ausschließung bildet den Untersatz seines

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
licher Gegenſtand zukommen; bleibt doch der Begriff in der
Seele, während das Ding untergeht, ſonach muß ihm ein
bleibender Gegenſtand entſprechen. — Oder er folgert mit Zu-
hilfenahme der eleatiſchen Sätze: ein Nichtſeiendes iſt nicht erkenn-
bar, und da die Vorſtellung ſich auf das bezieht, was Sein und
Nichtſein in ſich vereinigt, ſo iſt die Vorſtellung nur theilweiſe
Erkenntniß; da nun im Begriff ein wahres Wiſſen gegeben iſt, ſo
muß derſelbe ein von dem Objekt der Vorſtellung unterſchiedenes
Objekt haben. — Derſelbe Zuſammenhang von Wiſſen und Sein
wird dann auch von dem Begriff des Seins aus entwickelt:
das Ding ſtellt das, was in ſeinem Begriff enthalten iſt, nicht
rein dar, ſondern ſeine Prädikate ſind relativ und wechſelnd; alſo
hat es keine volle Wirklichkeit, ſondern dieſe kommt nur dem
zu, was der Begriff ausdrückt; dieſer aber kann aus keiner Wahr-
nehmung der Dinge abſtrahirt werden.

So ſteht innerhalb des Umkreiſes der Selbſtbeſinnung,
welche mit der ſokratiſchen Schule in die Metaphyſik eintrat und
ihren Horizont erweiterte, gerade die Beſinnung über das Wiſſen
im Vordergrund, indem vom Wiſſen aus auf ſeine Bedingung,
die Ideen geſchloſſen wird. Jedoch verbindet ſich mit dieſem
Schluß der aus dem Sittlichen. Denn die ganze Inhalt-
lichkeit der Menſchennatur, wie dieſer Geiſt von gewaltiger Realität
ſie in ſich erfuhr, iſt ihm, als aus der Sinnlichkeit nicht ableitbar,
ein Beweis für ihren Zuſammenhang mit einer höheren Welt.

Demgemäß hat der zweite Beſtandtheil des für Platos
Syſtem grundlegenden disjunktiven Schluſſes auf die Selbſtändig-
keit der Vernunft zu ſeinem Oberſatz die Disjunktion: das Ziel
des Handelns für den Einzelnen iſt entweder aus der Luſt ab-
zuleiten oder aus einem von ihrer Vergänglichkeit abgeſonderten,
ſelbſtändigen Grunde des Sittlichen; das Ziel des
Staatswillens iſt entweder durch die einander bekämpfenden ſelbſt-
ſüchtigen, auf Luſt gerichteten Intereſſen entſtanden oder in
einem von ihnen unabhängigen Weſenhaften gegründet. Platos
Polemik gegen die Sophiſtik ſchließt das erſte Glied der Dis-
junktion aus, und dieſe Ausſchließung bildet den Unterſatz ſeines

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0261" n="238"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
licher Gegen&#x017F;tand zukommen; bleibt doch der Begriff in der<lb/>
Seele, während das Ding untergeht, &#x017F;onach muß ihm ein<lb/>
bleibender Gegen&#x017F;tand ent&#x017F;prechen. &#x2014; Oder er folgert mit Zu-<lb/>
hilfenahme der eleati&#x017F;chen Sätze: ein Nicht&#x017F;eiendes i&#x017F;t nicht erkenn-<lb/>
bar, und da die Vor&#x017F;tellung &#x017F;ich auf das bezieht, was Sein und<lb/>
Nicht&#x017F;ein in &#x017F;ich vereinigt, &#x017F;o i&#x017F;t die Vor&#x017F;tellung nur theilwei&#x017F;e<lb/>
Erkenntniß; da nun im Begriff ein wahres Wi&#x017F;&#x017F;en gegeben i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
muß der&#x017F;elbe ein von dem Objekt der Vor&#x017F;tellung unter&#x017F;chiedenes<lb/>
Objekt haben. &#x2014; Der&#x017F;elbe Zu&#x017F;ammenhang von Wi&#x017F;&#x017F;en und Sein<lb/>
wird dann auch von dem Begriff des Seins aus entwickelt:<lb/>
das Ding &#x017F;tellt das, was in &#x017F;einem Begriff enthalten i&#x017F;t, nicht<lb/>
rein dar, &#x017F;ondern &#x017F;eine Prädikate &#x017F;ind relativ und wech&#x017F;elnd; al&#x017F;o<lb/>
hat es keine volle Wirklichkeit, &#x017F;ondern die&#x017F;e kommt nur dem<lb/>
zu, was der Begriff ausdrückt; die&#x017F;er aber kann aus keiner Wahr-<lb/>
nehmung der Dinge ab&#x017F;trahirt werden.</p><lb/>
              <p>So &#x017F;teht innerhalb des Umkrei&#x017F;es der Selb&#x017F;tbe&#x017F;innung,<lb/>
welche mit der &#x017F;okrati&#x017F;chen Schule in die Metaphy&#x017F;ik eintrat und<lb/>
ihren Horizont erweiterte, gerade die Be&#x017F;innung über das Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
im Vordergrund, indem vom Wi&#x017F;&#x017F;en aus auf &#x017F;eine Bedingung,<lb/>
die Ideen ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en wird. Jedoch verbindet &#x017F;ich mit die&#x017F;em<lb/>
Schluß der <hi rendition="#g">aus dem Sittlichen</hi>. Denn die ganze Inhalt-<lb/>
lichkeit der Men&#x017F;chennatur, wie die&#x017F;er Gei&#x017F;t von gewaltiger Realität<lb/>
&#x017F;ie in &#x017F;ich erfuhr, i&#x017F;t ihm, als aus der Sinnlichkeit nicht ableitbar,<lb/>
ein Beweis für ihren Zu&#x017F;ammenhang mit einer höheren Welt.</p><lb/>
              <p>Demgemäß hat der zweite Be&#x017F;tandtheil des für Platos<lb/>
Sy&#x017F;tem grundlegenden disjunktiven Schlu&#x017F;&#x017F;es auf die Selb&#x017F;tändig-<lb/>
keit der Vernunft zu &#x017F;einem Ober&#x017F;atz die Disjunktion: das Ziel<lb/>
des Handelns für den Einzelnen i&#x017F;t entweder aus der Lu&#x017F;t ab-<lb/>
zuleiten oder aus einem von ihrer Vergänglichkeit abge&#x017F;onderten,<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;elb&#x017F;tändigen Grunde des Sittlichen</hi>; das Ziel des<lb/>
Staatswillens i&#x017F;t entweder durch die einander bekämpfenden &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;üchtigen, auf Lu&#x017F;t gerichteten Intere&#x017F;&#x017F;en ent&#x017F;tanden oder in<lb/>
einem von ihnen unabhängigen We&#x017F;enhaften gegründet. Platos<lb/>
Polemik gegen die Sophi&#x017F;tik &#x017F;chließt das er&#x017F;te Glied der Dis-<lb/>
junktion aus, und die&#x017F;e Aus&#x017F;chließung bildet den Unter&#x017F;atz &#x017F;eines<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0261] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. licher Gegenſtand zukommen; bleibt doch der Begriff in der Seele, während das Ding untergeht, ſonach muß ihm ein bleibender Gegenſtand entſprechen. — Oder er folgert mit Zu- hilfenahme der eleatiſchen Sätze: ein Nichtſeiendes iſt nicht erkenn- bar, und da die Vorſtellung ſich auf das bezieht, was Sein und Nichtſein in ſich vereinigt, ſo iſt die Vorſtellung nur theilweiſe Erkenntniß; da nun im Begriff ein wahres Wiſſen gegeben iſt, ſo muß derſelbe ein von dem Objekt der Vorſtellung unterſchiedenes Objekt haben. — Derſelbe Zuſammenhang von Wiſſen und Sein wird dann auch von dem Begriff des Seins aus entwickelt: das Ding ſtellt das, was in ſeinem Begriff enthalten iſt, nicht rein dar, ſondern ſeine Prädikate ſind relativ und wechſelnd; alſo hat es keine volle Wirklichkeit, ſondern dieſe kommt nur dem zu, was der Begriff ausdrückt; dieſer aber kann aus keiner Wahr- nehmung der Dinge abſtrahirt werden. So ſteht innerhalb des Umkreiſes der Selbſtbeſinnung, welche mit der ſokratiſchen Schule in die Metaphyſik eintrat und ihren Horizont erweiterte, gerade die Beſinnung über das Wiſſen im Vordergrund, indem vom Wiſſen aus auf ſeine Bedingung, die Ideen geſchloſſen wird. Jedoch verbindet ſich mit dieſem Schluß der aus dem Sittlichen. Denn die ganze Inhalt- lichkeit der Menſchennatur, wie dieſer Geiſt von gewaltiger Realität ſie in ſich erfuhr, iſt ihm, als aus der Sinnlichkeit nicht ableitbar, ein Beweis für ihren Zuſammenhang mit einer höheren Welt. Demgemäß hat der zweite Beſtandtheil des für Platos Syſtem grundlegenden disjunktiven Schluſſes auf die Selbſtändig- keit der Vernunft zu ſeinem Oberſatz die Disjunktion: das Ziel des Handelns für den Einzelnen iſt entweder aus der Luſt ab- zuleiten oder aus einem von ihrer Vergänglichkeit abgeſonderten, ſelbſtändigen Grunde des Sittlichen; das Ziel des Staatswillens iſt entweder durch die einander bekämpfenden ſelbſt- ſüchtigen, auf Luſt gerichteten Intereſſen entſtanden oder in einem von ihnen unabhängigen Weſenhaften gegründet. Platos Polemik gegen die Sophiſtik ſchließt das erſte Glied der Dis- junktion aus, und dieſe Ausſchließung bildet den Unterſatz ſeines

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/261
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/261>, abgerufen am 27.11.2024.